Darum gehts
- Walliser Studie zu Pestizidbelastung bei Kindern sorgt für Kontroverse
- Arzt kritisiert Regierung für Verschleierung alarmierender Ergebnisse
- Im Schnitt wurden bei 206 Kindern 14 Pestizide nachgewiesen
- Schützt der Kanton seine Weinbauern?
Es riecht nach Chemie. Kristof Vandekerckhove (53) steht am Rand seines Gartens im Walliser Dorf Venthône. Sein Blick schweift auf den angrenzenden Rebberg. Der letzte Pestizideinsatz liege über zehn Tage zurück, sagt er. Trotzdem hänge der intensive Geruch noch in der Luft. Vandekerckhove, Augenarzt und früher bei Pharmafirmen in der Forschung tätig, berichtet: Der rege Einsatz von Pestiziden setze ihm persönlich zu. Noch mehr beunruhigt ihn aber, dass «Kinder Tag für Tag einen gefährlichen Pestizidcocktail einatmen».
Er hat immer noch Wut im Bauch. Am 3. Juni präsentierten die Staatsräte Christophe Darbellay (54) und Mathias Reynard (37) in Sitten VS die Ergebnisse der Parval-Studie. Diese untersuchte, wie stark Walliser Kinder durch Pestizide belastet sind. Die Kommunikation des Staatsrats empört Vandekerckhove: «Der Staatsrat hat die Ergebnisse heruntergespielt. Sie verharmlosen das Ausmass des Problems.»
Rebberge direkt neben Wohngebieten
Vandekerckhoves Verdacht: Der Kanton will damit die Weinbranche schützen. Für die Regierung im grössten Weinbaukanton ist das Thema heikel. Viele Familien arbeiten in dieser Branche. Zwar werden in anderen Kantonen rege Pestizide eingesetzt, doch im Wallis liegen Reben oft besonders nahe an Häusern – so auch in Venthône und den Gemeinden aus der Studie: Chamoson, Salgesch und Saxon. Die Kantonsregierung beauftragte deshalb das Swiss Tropical and Public Health Institute mit der Studie.
Die Studienergebnisse seien «nicht alarmierend», sagte der Staatsrat für Gesundheit Reynard (SP) an der Pressekonferenz: «Natürlich ist es nicht perfekt, aber wir haben das schon gewusst. Alle Kinder haben Kontakt mit Pestiziden, aber wir haben auch positive Resultate über die Konsequenzen für die Gesundheit von Kindern.» Was er damit meint: Die Lungenfunktionswerte der Kinder wirkten unauffällig. Was die Studie aber eindeutig gezeigt hat: Bei 206 Kindern wurde im Schnitt ein Cocktail aus 14 verschiedenen Pestiziden nachgewiesen – darunter sechs verbotene Mittel.
Arzt führt selbst Messungen durch
Vandekerckhove hat dafür kein Verständnis. Der Arzt ist selbst klinischer Forscher und sagt: «Beide Staatsräte haben den Fokus auf das Fehlen schwerer gesundheitlicher Effekte gelegt und von der alarmierenden Belastung durch die Pestizide abgelenkt. Eine derart massive und dauerhafte Belastung als ‹beruhigend› zu bezeichnen, ist wissenschaftlich, ethisch und politisch inakzeptabel.»
In seinem Garten ragt eine eigene Messstation in die Höhe. «Die Daten sind alarmierend», sagt er. «Bereits vor dem 15. April – also noch vor Beginn der Spritzsaison – lagen Glyphosat-Werte bis zu 500-mal höher als in einer Schweizer Vergleichsstudie von 2019, die in der Hochsaison im Rebbau durchgeführt wurde.» Vandekerckhove nutzt dieselbe Messtechnik, auf der die damalige Studie basiert.
Die Studiendauer von sechs Monaten sei viel zu kurz für Aussagen über Auswirkungen auf die Gesundheit. «Dazu wären 10 bis 20 Jahre nötig», sagt der Arzt. Nur so liessen sich mögliche Folgen wie Entwicklungsstörungen, ADHS, Atemwegsleiden, Krebs, Fruchtbarkeitsstörungen oder Diabetes beurteilen. Pestizide stehen im Verdacht, diese Krankheiten auszulösen. «Zudem wurde in der Studie aus Kostengründen auf hochtoxische Pestizide wie Folpet oder Glyphosat gar nicht getestet, obwohl diese im Wallis rege eingesetzt werden», ergänzt er.
«Studie erlaubt keine Aussage zur Gesundheit»
Die Untersuchung der Atemfunktion per Spirometrie sei nur ein Nebenziel der Studie gewesen, sagt der Arzt. Diese Methode diene vor allem zur Asthma-Diagnose, sei aber ungeeignet, um langfristige Atemwegsschäden durch Pestizide zur erfassen. Zudem sind diese Daten laut Studienbericht unzuverlässig – der Test ist für Kinder anspruchsvoll. Weitere medizinische Untersuchungen gab es nicht. «Die Studie erlaubt daher keine Aussage zur Gesundheit der Kinder.»
Vandekerckhove hat selbst Atembeschwerden. Seine Sauerstoffwerte sind oft auffällig tief. Ein ärztliches Gutachten nennt den Pestizideinsatz als wahrscheinliche Ursache. «Ich werde wegziehen müssen», sagt er.
Walliser Staatsrat nimmt Stellung
Staatsrat Reynard nimmt zu den Vorwürfen schriftlich Stellung: «Alle Ergebnisse wurden in absoluter Transparenz übermittelt.» Bei der Präsentation der Studienergebnisse sei mehrfach deutlich darauf hingewiesen worden, dass die Studie weder darauf abzielt, mögliche mittel- oder langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit der Atemwege zu messen, noch die Auswirkungen der Pestizidexposition auf andere Erkrankungen als die der Atemwege zu untersuchen und zu messen.
Für diese Aspekte müssten andere Studien an viel grösseren Zielgruppen und über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden. Der Kanton unterstütze deshalb das Projekt der nationalen Gesundheitsstudie, die derzeit vom Bundesamt für Gesundheit durchgeführt wird.
Bei zwei Pestiziden wurde ein Zusammenhang zwischen einer leichten Abnahme bestimmter Parameter der Lungenfunktion festgestellt. «Aus diesem Grund habe der Kanton Wallis beschlossen, zu handeln und die Erstellung eines Aktionsplans zur Verringerung der Pestizidexposition vorzusehen», schreibt Reynard.
Dazu sagt Vandekerckhove: «Entscheidend ist, ob die neuen Massnahmen über Absichtserklärungen hinausgehen – zumal bestehende Regeln offensichtlich schon nicht konsequent angewendet werden.»