«Es ist ein Verfassungsbruch durch die Hintertür»
1:38
Mindestlohn-Debatte:«Es ist ein Verfassungsbruch durch die Hintertür»

Parlament will kantonale Mindestlöhne kappen
«Wenn das kommt, verliere ich wohl 300 Franken im Monat»

24.50 Franken beträgt der Mindestlohn im Kanton Genf. Er reiche knapp zum Leben, sagen Betroffene. Doch nun geraten die kantonalen Mindestlöhne im Bundeshaus unter Druck.
Publiziert: 26.08.2025 um 09:56 Uhr
|
Aktualisiert: 26.08.2025 um 14:54 Uhr
Teilen
Anhören
Kommentieren
1/6
Cyril Ding und Nancy Aguirre kämpfen für den Genfer Mindestlohn.
Foto: Darrin Vanselow

Darum gehts

  • Kantonale Mindestlöhne könnten durch tiefere GAV-Löhne ersetzt werden
  • Betroffene befürchten Lohneinbussen und eine Verschlechterung ihrer Lebensqualität
  • Der Genfer Mindestlohn beträgt derzeit rund 24.50 Franken pro Stunde
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
RMS_Portrait_AUTOR_401.JPG
Tobias BruggmannRedaktor Politik

Im Kanton Genf wurde 2020 ein Mindestlohn eingeführt. Aktuell etwas weniger als 24.50 Franken pro Stunde, das macht rund 4500 Franken im Monat. Doch dieser knappe Lohn steht auf der Kippe.

Im Sommer beschloss der Nationalrat, die kantonalen Mindestlöhne zu kappen – zumindest dann, wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber in einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) tiefere Löhne vereinbart haben und der Bundesrat diese als für alle Firmen der Branche verpflichtend erklärt hat. Die Empörung war gross. Der Vorschlag kam von Mitte-Ständerat Erich Ettlin (63, OW). In dieser Woche berät die zuständige Ständeratskommission darüber.

«Wenn das durchkommt, verdienen die Ärmsten 250 Franken weniger pro Monat», schätzt Cyril Ding (29). Er ist Coiffeur in Genf. Selbst verdient er mehr als den Mindestlohn, er setzt sich aber für den Mindestlohn ein. Sparen sei für viele Menschen dennoch unmöglich. «In Genf alle Rechnungen zu bezahlen, ist schwer genug.»

«Ich schicke Herrn Ettlin die Rechnung»

Auch Nancy Aguirre (60) kennt die Situation. Als sie erfuhr, dass der Mindestlohn gekürzt werden könnte, erlitt sie eine Angstattacke und landete im Spital. Sie, die im Stundenlohn in einem Hotel die Zimmer herrichtet, erhielt eine hohe Arztrechnung. «Da habe ich gedacht, ich schicke Herrn Ettlin die Rechnung.»

Der Mindestlohn sei für sie eine Erleichterung. «Das verändert das Leben. Man kann sich kleine Freuden leisten: keine Ferien, keine Reise, aber vielleicht mal einen Kaffee trinken.» Sie erinnert sich an die Zeit davor, als eine Freundin einmal vorschlug, gemeinsam essen zu gehen. «Ich sagte lieber Nein und lud sie zu mir nach Hause ein.»

Die Arbeit im Hotel sei hart. «Wir stehen jeden Tag auf den Beinen, in einem Tempo wie im Fitnessstudio. Doch am Monatsende tut es besonders weh: wenn ich auf den Lohnzettel schaue.» Markenkleider kauft sie nicht, stattdessen besitzt sie eine Caritas-Karte. «Wenn das Gesetz kommt, verliere ich wohl 300 Franken im Monat», schätzt Aguirre. «Für einen Ständerat, der 140’000 Franken im Jahr verdient, ist das wenig. Für uns ist es die Welt.»

Eine Weiterbildung? Schwierig

Weiterbildungen seien kaum möglich. «Wer in der Hotelbranche arbeitet, braucht jeden Rappen. Da kann man nicht tagelang fehlen, um zur Schule zu gehen.» 

Dass Unternehmen unter den höheren Löhnen leiden, glauben beide nicht. «Schliesslich wenden die Genfer Unternehmen den Mindestlohn schon seit fünf Jahren problemlos an», sagt Coiffeur Ding. Aguirre ergänzt: «Die grossen Hotelketten beuten die Mitarbeitenden aus, die auf die Jobs angewiesen sind, und reiben sich gleichzeitig die Hände, weil sie nicht mehr zahlen müssen.» Sie appelliert an die Ständeräte: «Ich möchte Sie daran erinnern, wie sauber Ihre Hotelzimmer sind. Dahinter stehen Menschen, die hart arbeiten – für sehr kleine Löhne.»

«Müssen die Sozialpartnerschaft schützen»

Ständerat Ettlin verteidigt seinen Vorschlag. «Es geht um eine Güterabwägung: Wenn der Bundesrat einen GAV für alle verbindlich macht, darf der Lohn nicht einseitig verändert werden. Sonst besteht die Gefahr, dass die Arbeitgeber keine neuen Verträge mehr schliessen.»

«Gewerkschaften spielen eine unfaire Doppelrolle»
19:34
SVP-Gutjahr über Löhne:«Gewerkschaften spielen eine unfaire Doppelrolle»

Gesamtarbeitsverträge seien wichtig. «Sie regeln nicht nur den Lohn, sondern auch Ferienansprüche, Weiterbildungsmöglichkeiten und so weiter.» Ettlin glaubt nicht, dass die Änderung zu weniger Lohn führt. «Die allermeisten verdienen mehr als den Mindestlohn im GAV. Ausserdem betrifft die Änderung nur Genf und Neuenburg. In allen anderen Kantonen ändert sich nichts.» Auch im Jura, Tessin und in Basel-Stadt gibt es Mindestlöhne. Dort gehen GAV aber vor. «Wir müssen einen kantonalen Flickenteppich verhindern.»

Der Bundesrat lehnte die Vorlage ab, 25 der 26 Kantone äusserten sich kritisch. Nur Ettlins Heimatkanton Obwalden unterstützte ihn. Dass kantonale Volksentscheide ausgehebelt werden, ist für Ettlin eine schwierige Entscheidung. «Aber die Sozialpartnerschaft ist ein wichtiger Pfeiler im Schweizer Arbeitsmarkt. Den müssen wir schützen.»

In einer ersten Version des Artikels stand fälschlicherweise, dass auch Ding den Mindestlohn verdiene und von der Änderung betroffen wäre. Er hatte die Möglichkeit, die entsprechenden Passagen vor der Publikation zu autorisieren, nahm jedoch keine Anpassungen vor. Wir haben den Artikel im Sinne eines Entgegenkommens angepasst. Der Coiffeursalon legt zudem Wert auf die Feststellung, dass er ebenfalls gegen Arbeitgeber vorgehen wolle, die ihre Angestellten unterbezahlen.

Teilen
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Heiss diskutiert
    Meistgelesen
      Meistgelesen