Milena Moser über die metaphorische Kraft des Wetters
Stürmische Tage

An einem stürmischen Wochenende riss der Küstenwind die Marktstände vom Boden, wirbelte die Lebensmittel durch die Luft und brachte mindestens eine tapfere Frau dazu, in Tränen auszubrechen.
Publiziert: 26.05.2025 um 06:12 Uhr
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Milena Moser besucht mit einer Freundin einen Gemüsemarkt. Wegen des aufziehenden Sturms drehen sich die Gespräche ums Wetter.
Foto: Anadolu via Getty Images

Darum gehts

  • Milena Mosers Freundin redet mit den Menschen auf dem Markt gern übers Wetter
  • Heute ist es stürmisch – in Wirklichkeit, aber auch im übertragenen Sinn
  • Die Fremdenpolizei kontrolliert regelmässig die Arbeiter auf Gemüsefarmen, Unis setzen Diversitätskurse ab
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Ab und zu besuche ich mit einer Freundin den Farmer’s Market, nicht den schicken am Embarcadero, sondern den etwas abgehalfterten an der Autobahnausfahrt am Stadtrand. Nur ab und zu, weil sie eine Nachteule ist und der Markt meist schon die Stände abbaut, wenn sie bereit ist, aufzubrechen. Ich hingegen bin Frühaufsteherin, ich könnte also auch allein hingehen – aber mit ihr macht es mehr Spass. Trotz ihrer unregelmässigen Besuche kennt sie viele der Anbieter, plaudert mit allen. Sie ist eine Akademikerin alter Schule, zerstreut, neugierig, ein wenig schusselig. Aber sie ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, hat mit zwölf gelernt, den Traktor zu fahren. Sie findet immer die richtigen Worte, sie weiss, worüber die Leute reden wollen. Das Wetter.

Heute ist es stürmisch, der Wind rüttelt an den Verstrebungen, plustert die Blachen auf, wirbelt Plastikbeutel durch die Luft. «Nicht grad einfach, unter diesen Umständen», sagt eine Frau, die dünnschalige Zitronen anbietet, als frische Frucht, eingemacht im Glas, mit Zucker oder Essig. Sie schlingt schützend die Arme um sich selbst, meine Freundin nickt. «Geht uns auch nicht anders.» Ich kann nicht anders, als ihren Austausch metaphorisch zu hören. Das Wetter mit dem Klima gleichzusetzen. Den aktuellen Zuständen. Gemüsefarmen werden regelmässig von der Fremdenpolizei überfallen, die Felder bleiben unbestellt, die Erdbeeren ungepflückt, weil sich kaum mehr jemand traut, zur Arbeit zu erscheinen.

An der Uni, an der meine Freundin unterrichtet, werden gerade alle Kurse abgesetzt, die im weitesten Sinn mit Diversität zu tun haben. So auch ihrer. Die beiden Frauen scheinen sich zwischen den Zeilen zu verstehen, vielleicht bilde ich mir das nur ein. Vielleicht reden sie wirklich nur über das Wetter, der Sturm wird immer heftiger. Im Weitergehen ziehen wir die Schultern hoch und die Köpfe ein. Als meine Freundin eine reife Erdbeere probiert, fegt es das ganze Körbchen aus ihrer Hand. Am Brotstand kämpft eine Frau allein gegen den Wind, versucht gleichzeitig, die Plane festzuhalten und die Kunden zu bedienen, die geduldig anstehen. Ihr Telefon hat sie unters Kinn geklemmt: «Ich brauche Hilfe», ruft sie hinein. «Ich bin ganz allein hier!» Dann fällt das Telefon herunter, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Meine Freundin streckt den Arm nach ihr aus, doch die Frau wendet sich ab. Sie will keinen Trost. Sie weint vor Wut.

Wir klammern uns an die Eckstreben, an denen der Sturm mit überraschender Gewalt rüttelt. Ich muss all meine – zugegeben nicht gerade grosse – Kraft aufwenden, um die Strebe in ihrer Verankerung zu halten. Die Bäckerin hat sich die Tränen abgewischt, verkauft einen Laib Roggenbrot, zwei Blaubeer-Scones. Das Einwickelpapier entreisst ihr der wütende Wind. Dann kickt ein kleiner Junge, der nicht länger auf seine Zimtschnecke warten mag, gegen eine Strebe, die niemand festhält. Sie löst sich aus der Verankerung und schlägt aus wie ein wildes Pferd. Die Umstehenden springen erschrocken zurück, der Junge bricht in Tränen aus, so hat er das nicht gemeint. Die Strebe schwingt zurück, wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt.

«Jetzt reichts mir», ruft die Bäckerin. «Genug ist genug!» Hastig packt sie die verbleibenden Brotlaibe und Backwaren in Kisten, lädt uns mit einer Geste ein, uns zu bedienen. Dann sitzen meine Freundin und ich in ihrem Auto. Um uns herum wirbelt der Sturm. Lose Blätter und Plastikbeutel fliegen durch die Luft, Schirmmützen, Preisschilder, eine Pfingstrose. Und all die unausgesprochenen Worte.

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