Milena Moser über die Ungewissheit im Leben
Ich wüsste gern weiter

Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Was als Nächstes kommt. Das ist einerseits schwer auszuhalten, andererseits aber auch schlicht die Realität des Lebens. Es wird uns jetzt nur grad unangenehm deutlich bewusst gemacht.
Publiziert: 05.05.2025 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 03.05.2025 um 17:31 Uhr
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Schreiben und Leben werfen ähnliche Fragen auf: Wie geht es weiter?
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Darum gehts

  • Schreiben und Leben werfen ähnliche Fragen auf: Wie geht es weiter?
  • Nichtwissen ist schwer auszuhalten, aber Grundlage unseres Daseins
  • Eine Freundin von Moser lebt in Ungewissheit aufgrund einer Krankheit
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Während eines Schreibkurses bat ich die Teilnehmenden, ihr grösstes Problem auf ein Kärtchen zu notieren. Ihr grösstes Problem beim Schreiben, natürlich. Aber wie jedes Mal, wenn ich diese Kärtchen einsammle, stellte ich auch jetzt wieder fest, dass Schreiben und Leben ganz ähnliche Fragen aufwerfen. Zum Beispiel diese: «Ich wüsste gern weiter.»

Ach! Da konnte ich einen Seufzer nicht unterdrücken. Ich las die Frage – oder die Feststellung, denn sie endete in einem Punkt – der Gruppe vor. Alle seufzten mit mir und nickten. So ist es: Wir wüssten alle gerne, wie es weitergeht.

Beim Schreiben. Beim Lesen. Beim Leben. Im Privaten und im Globalen. Im Moment, so scheint es, bleibt kein Stein auf dem anderen. Die ohnehin schon wackelige Mauer der Realität oder eher dessen, was uns realistisch erscheint, bröckelt jeden Tag mehr und scheint bald einzustürzen.

Im Kurs sprachen wir darüber, dass das Nicht-wissen-wie-es-weitergeht vielleicht nicht das Schlimmste ist, vielleicht sogar den Reiz ausmacht. Beim Schreiben. Beim Lesen. Beim Leben ... beim Leben?? Nein, ganz ehrlich, ich finde das nicht angenehm. Dieses Nichtwissen, nicht zufällig auch eines der ersten Prinzipien des Zen-Buddhismus, ist nur schwer auszuhalten. Und ist doch die Grundlage unseres Daseins.

Wie heisst es in der «Dreigroschenoper»? «Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein grosses Licht! Dann mach noch einen zweiten Plan, geh'n tun sie beide nicht …» Okay, aber nur, weil ich etwas mit dem Verstand erfasst habe, heisst das noch lange nicht, dass ich es auch immer leben kann!

«Was ist denn die Alternative?», fragt meine Freundin, der ich mein Dilemma zu erklären versuche. Sie könnte auch sagen (tut es aber nicht): «Wem sagst du das?» Denn sie selbst lebt mit einem besonders grausamen Damoklesschwert, einer unheilbaren, immer tödlich verlaufenden Krankheit, die mit etwa 50 Prozent Sicherheit irgendwann nach ihrem 60. Geburtstag ausbrechen wird. Sie stammt aus einer kinderreichen Familie, alle ihre Geschwister sind betroffen, drei bereits daran gestorben, zwei haben Symptome, einer hat sich nicht testen lassen. Meine Freundin muss mit dieser Bedrohung leben, jeden Tag, bis zu ihrem Tod. Auch wenn die Krankheit am Ende gar nie ausbrechen wird. Das finde ich das Grausamste daran, dieses Nichtwissen.

«Ich wüsste gern weiter.» Ja, tatsächlich. Meine Freundin hat ihr Leben nach der Diagnose nicht auf den Kopf gestellt, sie ist nicht auf den Kilimandscharo geklettert oder mit einem Fallschirm am Rücken aus einem Flugzeug gesprungen. Sie lebt einfach weiter, jeden Tag. Sie geht zur Arbeit, kocht für ihren grossen Freundeskreis, tanzt in ihrer Küche, liest Bücher, kümmert sich um ihre Schwestern, geht mit mir spazieren. Wenn ich mir vorstelle, in ihrer Haut zu stecken, möchte ich mich unter mein Bett verkriechen und nur noch weinen. Vielleicht tut sie das auch manchmal, aber wenn, dann spricht sie nicht darüber.

«Wie hältst du das aus?», frage ich. «Wie nicht? Das ist mein Leben.» Das ist unser Leben. Ein Buch, von dem wir nicht wissen, wie es weitergehen, wie es ausgehen wird. Ein Buch, das uns zwingt, Seite um Seite weiterzublättern. Wie als Kind, als ich heimlich unter der Bettdecke las und mit der Glühbirne meiner Nachttischlampe die Bettdecke ankokelte, weil ich keine Taschenlampe hatte. Nur noch ein Kapitel, nur noch eine Seite. Lass mich noch einmal umblättern, nur noch einmal. Ich möchte wissen, wie es weitergeht.

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