Zapfsäule der Zukunft
Auf Schweizer Tankstellen kommen schwierige Zeiten zu

Mit der Energiewende müssen sich die Zapfsäulen-Betreiber neu erfinden. Einige betreten Neuland – und bauen ihre Tankstellen zu Wohlfühloasen um. Doch das hat seinen Preis.
Publiziert: 23.05.2024 um 16:46 Uhr
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Aktualisiert: 23.05.2024 um 16:48 Uhr
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Migrol-Tankstelle in Spreitenbach: Hier wird an der Zapfsäule der Zukunft gearbeitet.
Foto: Handelszeitung
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Andreas Güntert und Bernhard Fischer
Handelszeitung

Espresso Macchiato, Flat White Hafer Large, Iced Cappuccino Hafer – wer Kaffeeauswahl mag, ist hier richtig. Der kultivierte Koffeinkick könnte von einem Edelbarista an teurer Stadtlage stammen oder im hochglanzpolierten Flughafenterminal serviert werden. Doch der Ort, an dem neuerdings kuratierter Kaffeegenuss zur Auswahl steht, ist ein anderer: eine Tankstelle in einem Schweizer Industriequartier.

Zwei Dutzend Kaffeespezialitäten aus dem Automaten an der Tanke? Geschlürft von Leuten, die nicht gleich zum Auto zurückhasten, sondern sich mit Laptops an Fensterbrettarbeitsplätzen einrichten und danach im italienischen Restaurant gleich neben dem Shop speisen?

Artikel aus der «Handelszeitung»

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War die Tankstelle früher der Ort für den möglichst kurzen Boxenstopp, so soll man hier heutzutage länger verweilen. In einer schwach glamourösen Location probt die Migros-Tankstellenkette Migrol das Betreten von Neuland. «Was wir in Spreitenbach machen», sagt Migrol-Chef Andreas Flütsch, «ist eine Wette auf die Zukunft.»

Das Portemonnaie der Kundschaft besser anzapfen

Im März haben Migrol und die ebenfalls Migros-eigene Convenience-Händlerin Migrolino im aargauischen Limmattal das eröffnet, was sie «zukunftsweisendes Mobilitätskonzept» nennen. Nicht nur mit Diesel und Benzin, sondern auch mit E-Ladestationen, Vapiano-Restaurant, grossem Shop und Ad-hoc-Arbeitsplätzen, veredelt mit Koffeinhochkultur. Oder kurz: die Tankstelle der Zukunft.

Eine Zukunft, die für viele Tankstellenbetreiber unsicher ist. Auf der einen Seite bezüglich des Treibstoffmixes: Welche Rolle spielen Benzin und Diesel in zehn Jahren noch? Wie schnell wird die E-Mobilität vom trendigen Nischending zum Massenphänomen? Muss man bald schon Wasserstoff anbieten? Was ist dran an E-Fuels – und wie rechnet sich das alles?

Und auf der anderen Seite bezüglich der Shopangebote: Wollen Kundinnen und Kunden künftig eher ganz schnell durch den Laden? Oder vielleicht auch mal länger bleiben? Hält der Vorteil der Convenience-Shops mit ihren langen Öffnungszeiten auch am Sonntag an – oder wird das eventuell gar zum Standard abseits der Tankstellen?

Strom elektrisiert alle – aber es ist (noch) kein Geschäft

Während vieles unklar bleibt, so ist doch eines sicher: Tankstellen müssen sich neu erfinden.

Was die Säulensheriffs (und ihre Controller) bestimmt am meisten umtreibt, ist die Frage nach dem Treibstoffmix der Zukunft. Weil man hier die Allokation der Investitionen mit dem richtigen Timing vornehmen muss. Migrol-Chef Flütsch rechnet vor: «Es braucht 5 bis 10 Jahre, bis eine fossile Tankstelle amortisiert ist. Bei einer E-Tankstelle sind es 10 bis 15 Jahre.»

In diesem E-Business-Case findet sich allerdings ein Spielverderber. Der Treibstoff der Zukunft sei heute noch kein Geschäft, sagt Flütsch: «Heute verdient in der Schweiz niemand Geld mit dem Stromverkauf an Automobilistinnen.» Das sei ein Geschäftsfeld, das erst noch aufgebaut werden müsse – «der Anteil der E-Autos ist ja immer noch verschwindend klein».

Ähnlich sieht es Ueli Bamert, Leiter Politik beim Wirtschaftsverband Avenergy, der die Interessen der Importeure flüssiger Brenn- und Treibstoffe in der Schweiz vertritt: Auf dem Elektrofeld sehe man aktuell zwar eine Zunahme, allerdings auf sehr tiefem Niveau. Und: Ob sich das Geschäft überhaupt lohne, müsse Stand heute bezweifelt werden: «Weil viele E-Fahrzeuge zu Hause oder im Büro aufgeladen werden, ist hier – ausser allenfalls an Autobahnen – noch kein klares Geschäftsmodell erkennbar.»

«Alle Vorteile beim Elektroauto»

Stand heute wird mehrheitlich noch fossil getankt. Autos mit Akku sind nach wie vor selten. Bei den Neuimmatrikulationen von 252’000 Personenwagen im Jahr 2023 fahren zwar gut 20 Prozent vollelektrisch (knapp 10 Prozent sind Plug-in-Hybride). Aber bezogen auf den gesamten Fahrzeugbestand von rund 4,8 Millionen Autos fahren nur 3 Prozent mit Batterie. Demnach fahren hierzulande 97 Prozent aller PKW mit einem Tank.

Aber: Erstens wird in Europa die Produktion von Dieselfahrzeugen und Benzinern ab 2035 per Gesetz verboten. Und zweitens ist die Nutzungsdauer der Fahrzeuge im Markt begrenzt. Spätestens ab 2050 rechnet es sich für Tankstellen nicht mehr, weiterhin Diesel und Benzin für Personenwagen anzubieten. Das heisst: Business auf Sicht reicht nicht mehr, die Tankstellenbetreiber müssen bei der Umstellung auf Steckerautos jetzt ordentlich Gas geben. 

Das sieht der Direktor von Swiss E-Mobility, Krispin Romang, ähnlich: «Strom ist der Kraftstoff der Zukunft.» Der vollständige Ausstieg aus den fossilen Treibstoffen sei vorgegeben und werde in Europa bis 2035 vollzogen: «Die Verbrennungsfahrzeuge werden nahezu vollständig durch Elektroautos ersetzt.» Für ihn besteht kein Zweifel: «In Sachen Marktfähigkeit und Kosten, Effizienz und Umweltbilanz liegen alle Vorteile beim Elektroauto.» 

Teure Alternativen zum Strom im Tank

Autos werden dereinst primär mit Strom unterwegs sein. Aber nicht nur, auch Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe sind im Trend. Wasserstoff ist eine alternative, umweltfreundliche Treibstoffvariante, bei der zwar wenig Zeit für den Kafi an der Tanke bleibt, dafür geht das Zapfen flott.

Nur die Herstellung ist energieintensiv und teuer: Ein Elektrolyseur spaltet Wasser in Wasser- und Sauerstoff auf und verbraucht dafür massig Strom. Zudem sind Tankstellen, die H2 liefern, derzeit rar und primär auf LKW und den Transportverkehr ausgelegt. Das Netz von Wasserstofftankstellen müsste viel dichter werden, um die Masse der Autofahrenden zu erreichen.

Wie fast alle Autoauguren glaubt auch Migrol-Chef Flütsch, dass E-Autos dominieren werden: «Den Batteriefahrzeugen gehört die Zukunft, und sie könnten Mitte des nächsten Jahrzehnts überhandnehmen auf der Strasse. «Doch das ist nicht ohne Risiko: Kommen Stromfahrerinnen und -fahrer überhaupt noch zur Tankstelle, oder laden sie ihre E-Wagen künftig vermehrt zu Hause oder am Arbeitsplatz? Oder ist es genau andersrum? Kann man das Portemonnaie der Kunden bald besser anzapfen, weil E-Mobilistinnen in der Regel mehr Zeit zum Tanken brauchen als solche mit Verbrennermotor?

Im Versuchslabor Spreitenbach geht Flütsch von der Chancenvariante aus: «Hier testen wir, wie man die Aufenthaltsdauer an einer Tankstelle erhöhen kann. Mit Verweilzonen, Arbeitsplätzen, grosszügigem Shop und externem Gastronomieanbieter.»

Solche Zusatzangebote werden an der Tankstelle der Zukunft wichtiger denn je sein. Denn beim Endpreis unterscheiden sich die Treibstoffe so gewaltig, dass zwar die Fahrerinnen und Fahrer auf ihre Kosten kommen – aber nicht mehr die Betreiber, die dann erst recht den Umsatz über den Shop, das Restaurant, den Kiosk oder die Laptopplätze machen müssen.

Knappe Rechnung

Die Rechnung dazu sieht so aus: Fahrer mit Verbrenner bezahlen derzeit zwischen 12 und 15 Franken für 100 Kilometer mit Diesel oder Benzin. Zum Vergleich: Der benötigte Wasserstoff für 100 Kilometer beträgt ein Kilogramm. Die Kosten dafür: mehr als 20 Franken. Demgegenüber nimmt sich Strom spottbillig aus: Für 100 Kilometer braucht es 20 Kilowattstunden. Bei einem Preis pro Kilowattstunde um die 30 Rappen macht das 6 Franken.

Das Fazit: Jene Betreiberinnen, die nichts dem Zufall überlassen, setzen auf einen Angebotsmix aller wesentlichen Energieträger. Das sichert den Umsatz ab, dafür sind die Investitionen hoch. Wer weniger Treibstoffvarianten anbietet, ist auf ein Zusatzangebot in Form von Shops, Gastronomie und Verweilzonen angewiesen.

Die Firma Gofast, Produzentin und Betreiberin von Schnellladestationen für E-Autos, achtet bereits bei der Standortwahl auf solche Faktoren. Gofast kooperiert mit Partnern wie etwa McDonald’s und Aldi Suisse, rüstet deren Standorte mit Schnellladestationen aus und überlegt schon in der Planungsphase, wie man die Wartezeit während des Ladevorgangs möglichst sinnvoll nutzen kann. «Für den Fall, dass Standorte an attraktiven Verkehrslagen über keine Umgebungsangebote verfügen, evaluieren wir derzeit, wie wir zumindest ein kleines Angebot – wie Snackautomaten – zur Verfügung stellen können», sagt Sprecher Olivier Tezgören.

Tankstelle der zwei Geschwindigkeiten

Migrolino-Chef Lorence Weiss geht von einer Tankstelle der zwei Geschwindigkeiten aus: «Wir wollen allen gerecht werden, die nur zwei bis drei Minuten bei uns verbringen – das ist der Klassiker –, aber auch jenen, die auch mal zwei Stunden bei uns bleiben.» Das sei die Philosophie und der Grundgedanke der Pilotanlage: «In Spreitenbach vergrössern wir die Spielmasse der konventionellen Tankstelle.»

Beim Planen der Zukunft ist man eben auch in zwei Speedvarianten unterwegs. Langfristig und kurzfristig. In Spreitenbach wolle man bald schon Resultate sehen, sagt Weiss: «Wir wollen nicht eine Lösung für 2035 installieren, sondern ein Angebot schaffen, das heute schon sein Potenzial entfalten kann.» Ob das auch von den Kundinnen und Kunden so angenommen wird, muss nun ausgetestet werden. Schliesslich müssen sich für Duttis Erben die Investitionen lohnen. Was so für grosse wie für kleine Tankstellenanbieter gilt.

In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der hiesigen Markentankstellen zwar von rund 3500 auf 3300 verringert, doch im internationalen Vergleich zählt die Schweiz bezüglich Tankstellendichte immer noch zu den Spitzenreiterinnen in Europa. Neben den grossen Playern der Branche müssen sich auch viele kleinere Tankstellenbetreiber fragen, wie gross ihr Einsatz in der Zukunftswette sein soll. Und auf welches Treibstoffpferd sie dabei überhaupt setzen sollen.

Der kleine Anbieter Spurt – dahinter steht die Eduard Waldburger AG mit Sitz in St. Gallen – hat 15 Selbstbedienungstankstellen in der Schweiz. Allerdings ohne Shops, die Rechnung ist eine andere: Die Abschreibungsdauer ist dadurch kürzer, weil die Investitionen geringer sind.

Die Firma importiert Heizöl, Diesel und Benzin und ist fest im fossilen Treibstoffgeschäft verankert. «Es wird noch lange fossile Treibstoffe brauchen», sagt Manuel Hafner, Handelschef und Mitglied der Geschäftsleitung. «Wir rechnen mit einem leichten Rückgang, der nicht allzu gross sein wird, und wir hoffen und setzen stark auf synthetische Treibstoffe in der Zukunft.» Der Vorteil dabei sei, die bestehende Infrastruktur eins zu eins weiter nutzen zu können.

Synthetische Kraftstoffe, auch E-Fuels genannt, haben den Vorteil, dass sie weitgehend klimaneutral, mit bestehenden Verbrennern kompatibel und im Gegensatz zu Strom speicher- und transportierbar sind. Das E in E-Fuels steht dabei für «elektrobasierte Kraftstoffe». Mithilfe von Strom aus erneuerbaren Energiequellen werden chemische Prozesse ausgelöst, wodurch E-Benzin, E-Diesel und E-Kerosin entsteht. Die Nachteile: E-Fuels sind kostspielig und energieaufwendig.

Kurzum: Dem Ideal der Zapfsäule der Zukunft mit ausschliesslich nachhaltigen Treibstoffen im Angebot sowie Ladestationen am Standort stehen hohe Kosten gegenüber.

E-Fuels: Auto gegen Flugzeug

Die Branche setzt deshalb nicht nur auf synthetische Treibstoffe, um die letzten Verbrenner in die Zukunft zu holen, sondern auch auf Wasserstoff. Aber auch hier sind die Kosten für die Betreiber hoch.

Ein Beispiel: «Wenn man eine Tankstelle für Wasserstoff ausbaut, dann bedeutet das schnell mal 1 Million Franken an Investitionen», sagt Hafner. Und diese Beträge liegen für einen Anbieter wie Spurt derzeit nicht drin. «Zudem benötigen viele andere Branchen Wasserstoff, was auch den Preis treibt», sagt Christoph Wolnik, Vizedirektor von Auto-Schweiz. Das Tankstellennetz in der Schweiz werde zurzeit stetig erweitert. Gerade im Transportverkehr böten sich gute Optionen. Aber: «Die grösste Entwicklung passiert hier derzeit fahrzeugseitig», sagt Wolnik.

Weder beim Ausbau mit Wasserstoff noch bei den E-Fuels wird es schnell gehen, davon darf man ausgehen. «Der Markt für E-Fuels wird im Nahverkehr wohl ein Nischenmarkt bleiben, und der Löwenanteil wird in die Flugindustrie gehen», sagt Hafner. Das Problem sei aktuell die Verfügbarkeit, die noch zu gering sei.

Ausserdem seien die rechtlichen Grundlagen für den Einsatz von E-Fuels im motorisierten Individualverkehr noch nicht abschliessend geklärt, schreiben die Strategieberatung Schramm-Klein und die Universität Siegen in einer gemeinsamen Studie zum Tankstellenmarkt 2023. Verbrenner werden ab 2035 in der EU nicht mehr zugelassen, hier ist die Regelung klar. Ob es für Fahrzeuge, die ausschliesslich E-Fuels tanken, eine Ausnahme geben wird, wird im kommenden Herbst entschieden.

Die Mischung machts

Bei Spurt ist man deshalb offen für einen Treibstoffmix, um Chancen, Unsicherheiten und Risiken zu diversifizieren. Das heisst: Diesel und Benzin, Wasserstoff und E-Fuels je nach Machbarkeit – und ein Setting mit Elektroladestationen. «Welche Antriebsformen sich durchsetzen, das werden wir in den nächsten Jahren sehen», sagt Hafner.

Selbst wenn klar ist, dass der Strom das Rennen machen (und irgendwann auch profitabel sein wird), bleiben Unsicherheiten. Was bedeutet es für die Tankstelle, wenn die E-Autos mehr Reichweite haben, daheim laden können und weniger zum Tanken kommen? Ist dann die Tankstelle als Wohlfühloase wiederum obsolet? Für Flütsch ist klar: «Die Reichweite wird sich verbessern. Es wird ein Trade-off zwischen dem Gewicht der Batterie und der Reichweite sein.»

Je nachdem, wie das Spreitenbacher Modell von der Kundschaft aufgenommen wird, wird es die Migrol in anderen Landesgegenden implementieren. Vielleicht auch mit zusätzlichen Elementen. Auf einer modernen Tankstelle jedenfalls, sagt Flütsch, wären noch einige neue Angebote möglich: «Die Bandbreite dessen, was man noch alles machen könnte, ist immens: Das reicht vom Sitzungszimmer an der Tankstelle über den ausgebauten Kinderspielplatz bis hin zur Päckli-Annahmestelle und zum Coiffeur.»

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