Man solle sich einfach mal vorstellen: Nach einem Oberschenkelhalsbruch wird die Therapie unvermittelt gestoppt, die Krankenkasse eine Leistungsüberprüfung vornimmt. «Unvorstellbar, oder?», fragt Nadège Tebiro. Aber: «Bei psychischen Erkrankungen passiert das immer wieder.» Tebiro ist freiberufliche Pflegefachfrau aus Zürich. Sie verfügt über mehrjährige Erfahrung in der Psychiatriepflege und hat zusätzlich ein Diplom als psychologische Beraterin. Was sie in den letzten Monaten erlebt hat, macht sie «rasend vor Wut».
Dazu muss man wissen: Wenn eine Pflegefachperson nach einer ärztlichen Überweisung abklärt, welche psychiatrischen Massnahmen von der Krankenkasse übernommen werden sollen, muss sie eine einschlägige Berufserfahrung von zwei Jahren nachweisen können – wie Nadège Tebiro. Das haben die Krankenversicherer zu überprüfen.
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Jahrelang erledigte das eine gemeinsame Kommission des Krankenkassenverbands Santésuisse, von Spitex Schweiz und dem Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK). Ende 2021 wurde die Vereinbarung aufgelöst, weil Santésuisse einseitig die Bedingungen verschärfte; so beklagen es Spitex und SBK. Eine eigene Geschäftsstelle mit dem Namen BEPSY nimmt nun die Zulassungsprüfung vor.
Der Patientin wurde die Spitex einfach gestrichen
Seither herrscht Wildwuchs. Nadège Tebiro betreute seit Dezember 2022 eine Klientin, die an schizophrenen Schüben leidet. Im Juni 2023 erst fragte die Versicherung EGK nach ihrer Zulassung für die Bedarfsabklärung. Tebiro reichte ihren Nachweis nach der alten Vereinbarung ein – was nun plötzlich nicht mehr genügte. Jetzt muss sie das Überprüfungsprozedere durch BEPSY durchlaufen, 400 Franken zahlen und bis zum nächsten Prüftermin im November warten.
Eine weitere Konsequenz: Tebiros Klientin wurden die Spitex-Termine gestrichen, mitten in der Behandlung. Sie muss sich nun entweder eine neue Spitex-Begleitung mit BEPSY-Anerkennung suchen oder bis November zuwarten. Tebiro hat bei der EGK interveniert, doch bisher ohne Erfolg: «Für mich ist das bemühend, meiner Klientin jedoch unverantwortlich gegenüber.»
Mit ihrem Ärger ist Nadège Tebiro nicht allein. Das bestätigt Pierre-André Wagner, Leiter Rechtsdienst beim SBK: «Es häufen sich die Fälle, wo Krankenversicherer bei der Psychiatriepflege bremsen.»
Unnötige Behandlung, findet der Sachbearbeiter
Ein weiterer Fall betrifft eine junge Studentin mit psychischen Problemen, die von ihrer Hausärztin der Pflegefachfrau zugewiesen wurde. Nadège Tebiro begann die Therapie. Dann ging es los: Erst wurde ihr Berufsnachweis von der Krankenversicherung KPT abgelehnt, nach einigem Hin und Her dann aber doch akzeptiert. Bis als nächste Hürde eine Leistungsüberprüfung durch die Versicherung erfolgte. Gleichzeitig wurde mitgeteilt, dass die Therapiekosten nicht mehr übernommen würden, bis die Überprüfung abgeschlossen sei – unabhängig davon, in welcher gesundheitlichen Verfassung die Klientin ist.
Als sich die psychisch angeschlagene Studentin an die KPT wandte, wurde sie von einem Sachbearbeiter abgewimmelt. Seiner Einschätzung nach sei die psychiatrische Spitex-Begleitung unnötig. Es kam noch dicker: Die Leistungsübernahme wurde rückwirkend abgelehnt – mit der Begründung, es fehle «eine genügende fachärztliche Einschätzung». Der Bericht der Hausärztin reiche nicht aus. Zudem befinde sich die Patientin weder in psychotherapeutischer Behandlung noch in einer medikamentösen Therapie. Übersetzt heisst das so viel wie: Wer keine Psychopharmaka schluckt, braucht auch keine psychiatrische Spitex.
Nadège Tebiro hat für ihre Klientin bisher 30 Stunden aufgewendet. Wird diese Leistung nun nicht vergüten? Sie will kämpfen: «Rückwirkend dürfen keine Leistungen annulliert werden. Ich werde mich notfalls vor Gericht wehren.» Sie kann beim zuständigen kantonalen Gericht klagen oder vorgängig eine Schlichtungskommission anrufen, in der auch eine Vertretung der Pflegefachpersonen sitzt.
Aus Sicht des Berufsverbands SBK und von Spitex Schweiz sind die Zulassungsbedingungen vieler Krankenversicherer für die Psychiatriepflege ungesetzlich. Was Santésuisse verneint: Bei der Geschäftsstelle BEPSY handle es sich um eine Dienstleistung ohne rechtlich verbindlichen Charakter. Bei Ablehnung eines Gesuchs könne der Dienstleister ja eine anfechtbare Verfügung verlangen.
Das Bundesamt tritt nicht auf die Beschwerde ein
Spitex Schweiz hat bei Professor Ueli Kieser, einem anerkannten Sozialversicherungsexperten, ein Gutachten erstellen lassen. Gemäss Verordnung zum Krankenversicherungsgesetz braucht es für die Berufsausübung eine kantonale Bewilligung als Pflegefachfrau oder Pflegefachmann plus eine zweijährige Tätigkeit im Bereich Psychiatrie. Zusätzliche Auflagen können laut Kieser nicht einseitig durch die Krankenversicherer verlangt werden. BEPSY schliesst jedoch unter anderem Tätigkeiten unter 50 Prozent für den Praxisnachweis aus, ebenso Berufserfahrung im Ausland.
Deshalb reichten Spitex Schweiz, der Verband privater Spitex-Organisationen und der SBK-Fachverband Curacasa eine Aufsichtsbeschwerde beim Bundesamt für Gesundheit ein. Das Amt trat darauf jedoch nicht ein. Begründung: Der Dachverband Santésuisse sei kein Versicherer und falle deshalb nicht unter die Aufsicht des Bundesamts. Und ob die Voraussetzungen für die Zulassung gegeben seien, könne letztlich nur ein Gericht entscheiden. Fortsetzung folgt.