Wer Geschichten von Aussenseitern mag, muss Gottlieb Duttweiler (1888–1962) lieben. Als der Unternehmer 1925 die Migros gründete und den von Kartellen geprägten Detailhandel aufmischte, machte er sich die komplette Schweizer Wirtschaftselite zum Feind.
Die Reaktionen waren heftig. Markenartikelhersteller boykottierten den Neuling – und zwangen Duttweiler dazu, viele Produkte selbst herstellen zu lassen.
Die Eigenmarken-Strategie, aus der Not geboren, wurde zum Alleinstellungsmerkmal der Migros. Statt Café Hag verkaufte das Unternehmen Café Zaun, aus Rivella wurde Mivella, Ovomaltine wurde zu Eimalzin.
Noch im November 2013 sagte der damalige Marketingchef Oskar Sager an der Delegiertenversammlung, dass die Migros 90 Prozent ihres Umsatzes mit eigenen Marken generiere – und dass dies auch in Zukunft so bleiben solle.
Es kam anders. Vergangene Woche kündigte die Migros an, ab April 2021 Schokolade von Lindt & Sprüngli sowie Toblerone ins Sortiment zu nehmen. Damit wird Chocolat Frey, seit 1950 Teil des Konzerns, konkurrenziert. Die Eigenmarken-Strategie wird aufgeweicht. Nun beziffert die Migros den Anteil von Eigenmarken auf gut 75 Prozent.
Wird Coop zur neuen Migros?
Bei Coop geht es in die Gegenrichtung. 2019 sagte CEO Joos Sutter, er wolle den Eigenmarken-Anteil, der bereits seit Jahren steigt, von 55 auf 60 Prozent ausbauen. Da stellt sich die Frage: Setzt Migros durch die Schwächung der Eigenmarken das Erbe «Duttis» aufs Spiel?
Migros-Sprecher Marcel Schlatter schüttelt den Kopf: «Diese Vermutung trifft nicht zu.» Der Anteil eigener Produkte sei seit fünf Jahren unverändert. Von einer Annäherung an die Mitbewerber könne keine Rede sein: «Mit ihrem Sortiment von Eigenmarken ist die Migros einzigartig. Viele unserer Marken wie M-Budget, der Eistee oder unsere Glacen haben Kultstatus erreicht.»
Zudem würden laufend Eigenmarken aufgebaut. Vor wenigen Wochen zum Beispiel die neue Linie V-Love für vegetarische und vegane Lebensmittel.
Duttis Ideale
Eigenmarken sind aber nicht das einzige Vermächtnis Duttweilers. Noch wichtiger war Duttis Idee vom «Sozialen Kapital». Unter diesem Credo strebte er eine freie Marktwirtschaft an, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst ist.
Dass er es ernst meinte, bewies der Migros-Gründer 1941: Mitten im Zweiten Weltkrieg wandelte er sein Unternehmen von der Aktiengesellschaft in eine Genossenschaft um und schenkte es damit gewissermassen seinen Kunden.
Die Rolle als soziales Unternehmen ist noch immer Teil der Migros-DNA. So heisst es in Artikel 3 der aktuellen Statuten: «Im Sinne des Sozialen Kapitals und nach dem Ideengut der Gründer stellt die Migros den Menschen in den Mittelpunkt: Sie dient den Menschen und ist gegenüber den Genossenschaftern, Kunden, Mitarbeitenden, Lieferanten, Sozialpartnern, Behörden und der allgemeinen Öffentlichkeit verantwortungsbewusst.»
Der Abbau hat System
Diesen Bekenntnissen zum Trotz hat die Migros in den vergangenen Monaten mehrere Unternehmensbereiche abgestossen, Hunderte Stellen gestrichen und zahlreiche Mitarbeitende entlassen. Einige der Schlagzeilen:
Januar 2018: «Ex Libris schliesst drei Viertel aller Filialen.»
Juni 2018: «Migros baut 290 Stellen in der Konzernzentrale ab.»
Juni 2019: «Migros Ostschweiz streicht am Hauptsitz 90 Stellen.»
Juli 2019: «Migros Zürich baut rund 39 Stellen ab.»
September 2019: «Migros Aare baut in den nächsten zwei Jahren rund 300 Stellen ab.»
Juni 2020: «Hotelplan (Migros-Tochter; Red.) streicht 170 Stellen wegen Corona-Krise.»
September 2020: «Migros-Tochter Saviva entlässt 25 Angestellte.»
Die Vorschläge zu diesem Abbau kamen von Beratungsfirmen wie Capgemini, PricewaterhouseCoopers (PwC) und McKinsey. Das Ziel: Restrukturierung und Fokussierung auf das Kerngeschäft. Anders ausgedrückt: höhere Gewinne.
Das Ziel wurde erreicht. Letzte Woche frohlockte Fabrice Zumbrunnen (50), seit 2018 Migros-Chef, im Wirtschaftsblatt «Bilanz», der Betriebsgewinn sei in den letzten zwei Jahren von 603 auf 686 Millionen Franken gestiegen, 2020 könne gar zum Rekordjahr werden.
Wie lässt sich dieses Vorgehen – Stellenabbau hier, Rekordgewinn dort – mit Duttweilers Sozialem Kapital vereinbaren?
Migros-Sprecher Schlatter: «Gottlieb Duttweilers Erbe kann nur dann überdauern, wenn man sich den veränderten Marktgegebenheiten und den sich wandelnden Kundenbedürfnissen anpasst – genau dies war das bestechende Erfolgsrezept unseres Firmengründers.»
Die Zeiten ändern sich
So habe man es auch in den vergangenen Jahren gehalten: «Der Markt und das Kundenverhalten haben sich stark verändert. Mit der Fokussierung auf das Kerngeschäft und dem enormen Ausbau im Bereich Convenience, bei den digitalen Vertriebskanälen sowie im Geschäftsfeld Gesundheit hat die Migros insgesamt keine Stellen abgebaut, sondern Tausende neuer Jobs geschaffen.»
Es stimmt: Trotz des jüngsten Abbaus bietet die Migros-Gruppe heute deutlich mehr Menschen einen Arbeitsplatz als vor einigen Jahren. 2006 beschäftigte der orange Riese 79'597 Personen, Ende 2019 waren es 106'119.
Allerdings sind immer weniger Mitarbeiter einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) unterstellt. 2006 betrug die GAV-Quote 80,6 Prozent, 2019 nur noch 62 Prozent (siehe Grafik). Der Logistik-Mitarbeiter bei der Migros-Tochter Digitec Galaxus beispielsweise ist keinem GAV unterstellt, der Logistikmitarbeiter im Migros-Verteilzentrum in Neuendorf SO oder Suhr AG dagegen schon.
Weshalb diese Zwei-Klassen-Gesellschaft?
Bei Migros glaubt man, dass die Arbeitsbedingungen bei schnell wachsenden Unternehmen wie Digitec Galaxus mit denjenigen der Mitbewerber aus der Logistikbranche verglichen werden müssten – nicht mit jenen des Landes-GAV der Migros. «Zudem haben wir in vielen Einheiten, die nicht dem GAV angeschlossen sind, die Arbeitsbedingungen in den vergangenen Jahren laufend verbessert», so Schlatter.
Migros sieht Erbe nicht gefährdet
Dass Duttis soziales Erbe gefährdet ist, glaubt der Migros-Sprecher nicht, im Gegenteil: «Wahrscheinlich wäre Herr Duttweiler stolz, dass die Migros weiterhin die unbestrittene Marktführerin ist und dass wir unserem weltweit einzigartigen Engagement im kulturellen und sozialen Bereich treu geblieben sind.»
Zudem weist Schlatter darauf hin, dass die Migros allein für das Kulturprozent – ein freiwilliges Engagement in den Bereichen Kultur, Gesellschaft, Bildung, Freizeit und Wirtschaft – im vergangenen Jahr mehr als 130 Millionen Franken freigegeben habe.
Der Neuenburger Fabrice Zumbrunnen (51) übernahm Anfang 2018 den Chefsessel von Migros-Urgestein Herbert Bolliger (66). Er ist der jüngste Migros-Chef aller Zeiten. Der orange Riese, grösster privater Arbeitgeber der Schweiz, erzielte im Jahr 2020 einen Umsatz von fast 30 Milliarden und einen Gewinn von 555 Millionen Franken. Zumbrunnen wohnt mit seiner Familie in der Uhrenmetropole La Chaux-de-Fonds NE. Ehefrau Paule (53) ist Konzertgeigerin. Das Paar hat zwei erwachsene Kinder, Rose und Rodolphe.
Der Neuenburger Fabrice Zumbrunnen (51) übernahm Anfang 2018 den Chefsessel von Migros-Urgestein Herbert Bolliger (66). Er ist der jüngste Migros-Chef aller Zeiten. Der orange Riese, grösster privater Arbeitgeber der Schweiz, erzielte im Jahr 2020 einen Umsatz von fast 30 Milliarden und einen Gewinn von 555 Millionen Franken. Zumbrunnen wohnt mit seiner Familie in der Uhrenmetropole La Chaux-de-Fonds NE. Ehefrau Paule (53) ist Konzertgeigerin. Das Paar hat zwei erwachsene Kinder, Rose und Rodolphe.