Die Sonne strahlt an diesem Herbsttag im Oktober 2022 in Witikon ZH. Der Zürcher Stadtteil ist umgeben von viel Wald und die Sonne lässt die Farbenpracht der Bäume besonders hell strahlen. Ein Besuch in Witikon kommt einem Ausflug ins Grüne gleich. Ein bisschen Dorf-Feeling mitten im Stadtquartier.
«Das war einst mein Zuhause», sagt Christina Petermann (79), und zeigt auf das Wohnhaus hinter sich. Zusammen mit Blick steht sie noch einmal hier, an der Strasse in Witikon ZH, wo sie Ende März 2022 ihre Wohnung räumen musste.
Die Vermieterin, die Mobiliar, hatte allen Anwohnern den Vertrag gekündigt. Grund: Das Gebäude soll aufwendig saniert und um zwei Stockwerke aufgestockt werden.
Einsprachen verzögern Bau
Doch passiert ist seither nichts, wie Recherchen von Blick zeigen. Noch immer stecken die Bauvisiere rund um die Liegenschaft mit Jahrgang 1971. Die Bagger sind allerdings nicht vorgefahren. Grund: Dem Versicherer fehlt die Baubewilligung. «Es ist eine Einsprache eines benachbarten Liegenschaftsbesitzers hängig», erklärt Jürg Thalmann, Sprecher der Mobiliar.
Für Petermann änderte das nichts. Sie musste ihr Zuhause verlassen. Etwas Neues zu finden, war nicht einfach. Zumal die Rentnerin unbedingt in Zürich bleiben wollte, sie aber nicht vermögend ist. «Witikon ist meine Heimat», sagt sie. Die Atmosphäre unter den Anwohnern sei familiär. Die marktüblichen Mieten hier kann sich die Rentnerin aber nicht mehr leisten.
«3000 Franken kann ich mir nicht leisten!»
Petermann ist geschieden. Ihre Tochter zog sie alleine gross. Zu einer Zeit, in der es noch kaum ausserschulische Betreuungsangebote für Kinder gab. «Einfach war das nicht», sagt Petermann.
Nach Zürich kam sie 1966, um bei der Swissair als Flight Attendant zu arbeiten. Es habe zu ihrer Zeit noch keine berufliche Vorsorge gegeben, und als Alleinerziehende konnte sie nebenher nicht viel zur Seite legen.
Ersparnisse hat sie kaum. Petermann lebt von einer kleinen AHV-Rente mit Ergänzungsleistungen. «Eine Wohnung für 3000 Franken kann ich mir nicht leisten!», sagte Petermann letztes Jahr zu Blick.
Bezahlbarer Wohnraum ist knapp
Alleine ist Petermann mit diesem Problem nicht. In Zürich kam es zwischen 2019 und 2020 bei einem Drittel aller Wohnhäuser wegen eines Umbaus zu Leerkündigungen. Neuere Zahlen gibt es nicht.
Leerkündigungen sind attraktiv, weil Immobilienbesitzer so auf einen Schlag die Mieteinnahmen stark erhöhen können. Für betroffene Mieter können sie allerdings existenzbedrohend sein.
Schweizweiter Wohnungsmangel
Klar ist: Die Situation hat sich inzwischen zugespitzt. Denn Wohnraum wird zunehmend knapp – und teuer. Nicht nur in den Städten. Die Immobilienberatungsfirma Wüest Partner prognostiziert 2023 in 20 von 26 Kantonen einen Wohnungsmangel. Besonders rar: günstiger Wohnraum.
Die Analyse von Wüest Partner zeigt weiter, dass der Ausbaustandard in den letzten zehn Jahren stetig gestiegen ist. Demnach wird heute rund zehn Prozent mehr in eine Wohneinheit investiert als damals – die höheren Baupreise nicht eingerechnet. Darunter leiden vor allem Niedrigverdiener. Die Belastung durch Wohnkosten hat bei ihnen stark zugenommen.
Hausbesetzer sind eingezogen
Die Überbauung in Witikon musste Ende März 2022 leergeräumt sein. Lange blieben die Räumlichkeiten allerdings nicht unbewohnt. Inzwischen haben sich Hausbesetzer breitgemacht.
Die Mobiliar weiss davon und drückt ein Auge zu. «Die von uns beauftragte Immobilienverwaltung steht in Kontakt mit den Besetzern», sagt Thalmann. Man erwarte eine friedliche Behausung.
Die Liegenschaft steht laut der Mobiliar grundsätzlich bis zum Erhalt der Baubewilligung ukrainischen Flüchtlingen zur Verfügung. Sie wurde der Asyl-Organisation für den Kanton Zürich AOZ gemeldet. «Diese hat aber bis heute keinen konkreten Bedarf angemeldet», so Thalmann.
Kampf gegen die Gentrifizierung
Die Hausbesetzer wollen gegenüber Blick nicht Stellung nehmen. Die Bewohner identifizieren sich unter anderem mit der Gruppierung «Alles wird besetzt» aus Zürich. Diese kämpft für mehr bezahlbaren Wohnraum in der Stadt und macht sich gegen die Gentrifizierung stark.
Mit Protestaktionen wollen sie darauf aufmerksam machen, dass die ansässige Bevölkerung im Zuge von Sanierungen und durch die Aufwertung von Stadtteilen durch wohlhabende Anwohner verdrängt werde.
Stiftung schafft günstige Alterswohnungen
Dass Petermann trotz allen Widrigkeiten eine neue, bezahlbare Bleibe gefunden hat, ist der Rohn-Salvisberg-Stiftung in Zürich zu verdanken. Sie bietet in Zürich Alterswohnungen zu günstigen Bedingungen. Der Mietzins der Bewohner legt die Stiftung abhängig vom Einkommen fest. Petermann hat das Glück, eine dieser Alterswohnungen ergattert zu haben. «Diese Stiftung hat mich gerettet», sagt sie heute.
Die 79-Jährige wohnt nun rund 100 Meter neben ihrem ehemaligen Zuhause. Ihre Geschichte nimmt damit ein glückliches Ende. Doch für Petermann ist es damit nicht getan. «Ich werde mich weiterhin für mehr bezahlbaren Wohnraum in Zürich einsetzen», sagt sie.
Wenn sie mit ihrem Hund Bobbi spazieren geht, läuft sie immer noch regelmässig an ihrem ehemaligen Zuhause vorbei. Trifft sie dabei auf einen der Hausbesetzer, grüsst sie freundlich. Der Kampf für mehr bezahlbaren Wohnraum hat aus den ungleichen Stadtbewohnern Verbündete gemacht.