Kaum hat sie sich am neuen Ort eingelebt, muss Christina Petermann (78) schon wieder raus aus ihrer Wohnung. Eigentlich dürfte die gebürtige Baslerin heute gar nicht mehr in ihrem Wohnzimmer sitzen. Denn Ende September 2021 mussten alle Mieterinnen und Mieter der Liegenschaft im Zürcher Quartier Witikon ihre Wohnung räumen. Sie selbst hat sich noch ein paar Monate Galgenfrist erstritten, wie sie im Gespräch mit Blick sagt.
Mit der Leerkündigung, die den Mietparteien im Herbst 2020 ins Haus flatterte, begann für Rentnerin Petermann ein Albtraum, den sie davor schon einmal erlebt hatte. «Ich konnte es nicht glauben, als ich die Kündigung vor mir hatte!», so Petermann. Als sie vor vier Jahren in die Witiker Liegenschaft einzog, hatte sie bereits eine Leerkündigung wegen Totalsanierung hinter sich. Ebenfalls in Zürich.
Dabei liess sie sich beim Einzug vom neuen Vermieter – der Mobiliar – versichern, dass die Wohnungen in Witikon in den nächsten Jahren nicht wegen einer Sanierung leergeräumt werden würden. Der Versicherer erklärte ihr, man werde höchstens kleine Neuerungen in Küche und Bad vornehmen.
Petermann kann sich die Miete nur knapp leisten
Heute tönt es beim Versicherungskonzern anders. «Die Sanierung ist sehr umfassend – zum Beispiel wegen Grundrissänderungen und der Aufstockung auf vier Stockwerke», erklärt die Mobiliar gegenüber Blick. Die betroffene Liegenschaft mit insgesamt 14 Wohnungen wurde 1971 gebaut.
«Hätte ich gewusst, dass ich vier Jahren nach dem Einzug wieder rausmuss, wäre ich niemals hierhergekommen», sagt Petermann. Sie wohnt mit ihrem Hund in einer 2,5-Zimmer Wohnung. Für das 50 Quadratmeter grosse Apartment bezahlt sie 1650 Franken pro Monat. Die Miete kann sich die Rentnerin nur knapp leisten.
Petermann ist geschieden. Ihre Tochter zog sie alleine gross. Zu einer Zeit, in der es noch kaum ausserschulische Betreuungsangebote für Kinder gab. «Einfach war das nicht», sagt sie. Nach Zürich kam sie 1966, um bei der Swissair als Flight Attendant zu arbeiten. Es habe zu ihrer Zeit noch keine berufliche Vorsorge gegeben und als Alleinerziehende konnte sie nebenher nicht viel zur Seite legen. Ersparnisse? Fehlanzeige. Petermann hat nur eine kleine AHV-Rente mit Ergänzungsleistungen.
Die Rentnerin fühlt sich abgeschoben
«Obwohl ich 50 Jahre lang gearbeitet habe, werde ich nun einfach abgeschoben», sagt sie. So fühle sich das zumindest an. «Kürzlich war auf der anderen Strassenseite eine 2,5-Zimmer Wohnung in einem Neubau für 3000 Franken ausgeschrieben – das kann ich mir unmöglich leisten», sagt Petermann.
Witikon sei ihre Heimat. Die Atmosphäre unter den Anwohnern familiär. Auf der Hunderunde grüsst man sich und redet über das Leben. Es fühle sich an wie ein Dorf mitten in der Stadt. «Hier habe ich meine Freunde – das ist wichtig, gerade für Alleinstehende», sagt sie. Eine neue Wohnung in dieser Preisklasse und mit Hund zu finden – das ist in Zürich nahezu unmöglich.
«Ich brauche keinen Luxus», sagt die Rentnerin. Sie will aber auch nicht in eine heruntergekommene Wohnung ziehen, der ebenfalls eine Sanierung droht.
Wie Petermann geht es Tausenden von Mieter
Allein ist Petermann mit diesem Problem nicht. Von 2018 bis 2019 kam es laut Zahlen der Stadt Zürich bei über 33 Prozent der Sanierungen zu einer Leerkündigung. Neuere Zahlen liegen nicht vor. Doch auch Blick berichtet immer wieder von betroffenen Mieterinnen – beispielsweise Ayana R.*, für die die Leerkündigung existenzbedrohend war. Dabei war R. zu allen Kompromissen bereit. «Ich bin allein und brauche lediglich ein bis eineinhalb Zimmer», sagt sie damals Blick.
«Allein in der Stadt Zürich gehen wir von 1000 bis 1400 Leerkündigungen aus, die private Vermieter pro Jahr aussprechen», sagt Walter Angst (60), Sprecher des Mieterinnen- und Mieterverbands des Kantons Zürich.
Der Verband rechnet damit, dass diese Zahl künftig weitersteigt. Die Angebotsmieten haben sich in Zürich seit 2005 nahezu verdoppelt. «Leerkündigungen sind attraktiv, weil Investoren so auf einen Schlag die Mieteinnahmen verdoppeln können», sagt Angst.
Das Problem kennen aber nicht nur Stadtzürcher. Leerkündigungen häufen sich schweizweit! «Wir beobachten seit längerem eine Zunahme von Leerkündigungen und Totalsanierungen», bestätigt Natalie Imboden (51), Generalsekretärin Mieterinnen- und Mieterverband Schweiz. «Hotspots sind dabei die grossen Städte.»
Rentnerin Petermann will nicht aufgeben
Petermann lässt sich nicht unterkriegen, wehrte sich gegen den Rauswurf, indem sie die Kündigung anfocht. Grund: Innert Jahresfrist eine zumutbare Wohnung zu finden, ist für die Rentnerin angesichts ihres Budgets und des umkämpften Zürcher Wohnungsmarkts fast unmöglich.
Die Schlichtungsbehörde gab ihr recht. Petermann konnte so eine Erstreckung des Mietverhältnisses um sechs Monate erwirken. Zudem erhält sie beim Auszug zwei Monatsmieten ausbezahlt – als Zustupf für den Umzug. Ende März 2022 muss Petermann nun also definitiv raus. Wohin, das weiss sie noch nicht.
* Name der Redaktion bekannt
Steht bei einer Liegenschaft eine grosse Sanierung an, erhalten Mietparteien meist die Kündigung. Wer das nicht akzeptieren will, sollte rechtlich alle Optionen ausschöpfen. Dazu raten die kantonalen Mieterverbände, die Hilfe anbieten.
«In den meisten Fällen merken Mieter schon sehr früh, dass die Eigentümer etwas vorhaben», sagt Walter Angst (60), Sprecher des Mieterinnen- und Mieterverbands des Kantons Zürich. Er rät Betroffenen, sich so früh wie möglich beim Verband zu melden. Am besten noch bevor das Bauvorhaben ausgearbeitet worden ist.
Wenn es trotzdem zur Kündigung komme, sollten so viele Liegenschaftsmieter wie möglich eine Anfechtung einreichen und mehr Zeit für die Wohnungssuche verlangen.
Das sieht der Hauseigentümerverband anders. «Bei Altbauten führen ‹Pflästerlimassnahmen› meist nicht zu befriedigenden Resultaten», sagt Sprecherin Monika Sommer. Im Falle einer Totalsanierung wähle der Eigentümer daher den Weg einer Leerkündigung, «dies anerkennt auch die Rechtsprechung als zulässig.» Dorothea Vollenweider
Steht bei einer Liegenschaft eine grosse Sanierung an, erhalten Mietparteien meist die Kündigung. Wer das nicht akzeptieren will, sollte rechtlich alle Optionen ausschöpfen. Dazu raten die kantonalen Mieterverbände, die Hilfe anbieten.
«In den meisten Fällen merken Mieter schon sehr früh, dass die Eigentümer etwas vorhaben», sagt Walter Angst (60), Sprecher des Mieterinnen- und Mieterverbands des Kantons Zürich. Er rät Betroffenen, sich so früh wie möglich beim Verband zu melden. Am besten noch bevor das Bauvorhaben ausgearbeitet worden ist.
Wenn es trotzdem zur Kündigung komme, sollten so viele Liegenschaftsmieter wie möglich eine Anfechtung einreichen und mehr Zeit für die Wohnungssuche verlangen.
Das sieht der Hauseigentümerverband anders. «Bei Altbauten führen ‹Pflästerlimassnahmen› meist nicht zu befriedigenden Resultaten», sagt Sprecherin Monika Sommer. Im Falle einer Totalsanierung wähle der Eigentümer daher den Weg einer Leerkündigung, «dies anerkennt auch die Rechtsprechung als zulässig.» Dorothea Vollenweider