«Ich zittere, wenn Lastwagen vorbeifahren»
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Ivanna Klympush in Davos:«Ich zittere, wenn Lastwagen vorbeifahren»

Ivanna Klympush, ehemalige Vize-Ministerpräsidentin der Ukraine
«Friedens-Verhandlungen? Die stehen nirgends»

Die ukrainische Abgeordnete Ivanna Klympush zieht ein WEF-Fazit, fordert von der Schweiz mehr Hilfe – und sagt, wann sie selbst zur Waffe greift.
Publiziert: 28.05.2022 um 12:48 Uhr
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Aktualisiert: 28.05.2022 um 13:26 Uhr
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Abgeordnete Ivanna Klympush: «Freiheit und Demokratie haben ihren Preis.»
Foto: Philippe Rossier
Interview: Fabienne Kinzelmann

Selbst im WEF-Getümmel ist Ivanna Klympush (49) gut erkennbar. Eine gelbe Bluse und blau-gelbe Stickereien zeigen, wo Herz und Heimat der Abgeordneten und ehemaligen Vize-Ministerpräsidentin der Ukraine liegen. Mit einer grossen Delegation und trotz beschwerlicher An- und Abreise ist sie fürs WEF nach Davos gereist. Hier trifft Blick die ukrainische Top-Politikerin zum Interview.

Wie fühlen Sie sich nach dieser intensiven WEF-Woche?
Klympush: Müde. Aber auch ein bisschen besorgt, dass es schwierig sein wird, die grosse Unterstützung aufrechtzuerhalten, die wir jetzt bekommen.

Hat Ihnen das jemand so direkt gesagt?
Nein, aber es gibt auch in Europa einige politische Kräfte, die gern wieder zur Tagesordnung übergehen und so tun würden, als wäre die Invasion nie passiert. Ich spüre, dass sich manche der Regierungen vor den steigenden Preisen und der Knappheit mancher Güter fürchten. Es könnte sein, dass sie versuchen werden, die Ukraine statt Russland zu Zugeständnissen zu drängen, um den Krieg zu beenden. Aber Europa muss verstehen, dass Freiheit und Demokratie ihren Preis haben.

Zur Person

Die Abgeordnete Ivanna Klympush (49) gehört zur Partei des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, der 2019 seine Wiederwahl gegen Wolodimir Selenski verlor. Nach einem Ministeramt in Poroschenkos Kabinett sitzt sie nun dem Parlamentskomitee zur Integration der Ukraine in die EU vor. Vor ihrer politischen Karriere studierte Klympush in der Ukraine und den USA und arbeitete als Journalistin für die BBC.

Philippe Rossier

Die Abgeordnete Ivanna Klympush (49) gehört zur Partei des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, der 2019 seine Wiederwahl gegen Wolodimir Selenski verlor. Nach einem Ministeramt in Poroschenkos Kabinett sitzt sie nun dem Parlamentskomitee zur Integration der Ukraine in die EU vor. Vor ihrer politischen Karriere studierte Klympush in der Ukraine und den USA und arbeitete als Journalistin für die BBC.

Abseits der Hauptbühne äusserten nicht-europäische Teilnehmer angesichts explodierender Energiepreise und der drohenden Hungerkrise Zweifel daran an, dass die ganze Welt für den Sieg der Ukraine mitbezahlen soll.
Es ist ganz einfach: Was gerade passiert, ist nur der erste Schritt. Russland will uns ausradieren. Aber wenn wir fallen, hat das weltweit drastische Konsequenzen. Die Welt hat Putin in Georgien gewähren lassen, sie liess ihn beim Einsatz von Giftgas in Syrien davonkommen und mit der Annexion der Krim. Wenn sich die internationale Gemeinschaft beim Krieg in der Ukraine einschüchtern lässt, wird Putin nicht an unseren Landesgrenzen aufhören. Er ist auf einer Mission, das Russische Reich wiederherzustellen. Nur wenn er merkt, dass er in der Ukraine nicht weiterkommt, wird er es auch nicht bei anderen Ländern versuchen.

Was haben Sie in Davos konkret erreicht?
Dass die Ukraine weiterhin ganz oben auf der Tagesordnung steht. Dieser brutale, barbarische, blutige Krieg mitten in Europa darf nicht aus den Schlagzeilen verschwinden. Der Zusammenbruch der europäischen Sicherheit, der stattgefunden hat, ist von Bedeutung und hat Auswirkungen auf die gesamten wirtschaftlichen und geopolitischen Prozesse. Und auf unsere gemeinsamen Werte.

Was erwarten Sie von den Wirtschaftsbossen, die Sie in Davos getroffen haben?
Einige der Unternehmen sollten es sich noch einmal überlegen und versuchen, sich endgültig aus Russland zurückzuziehen – und solidarisch mit ukrainischen Unternehmen handeln. Unsere Unternehmen können Güter anbieten, aber niemand will aktuell mit ihnen Verträge unterzeichnen, weil unsicher ist, ob es klappt, die Produkte tatsächlich zu exportieren.

Bundespräsident Ignazio Cassis sprach am WEF in Bezug auf die Ukraine von «kooperativer Neutralität». Können Sie mit diesem Begriff etwas anfangen?
Ich lese das so, dass die Schweiz ihre Neutralität in der Praxis grundsätzlich überdenkt. Ich weiss, dass sie bereits einige Schritte unternommen hat, um einen Teil der russischen Vermögen einzufrieren, die sie aufbewahrt. Ich hoffe, das ist nur der Anfang.

Sehen Sie nach Ihrem Besuch in der Schweiz Anzeichen dafür, dass der Bundesrat seine Haltung in Sachen Munitionslieferung überdenkt?
Ich habe nicht das Gefühl, dass sich die Haltung zur Munition, die wir jetzt für die deutschen Panzer brauchen, ändern wird. Hoffentlich haben unsere Diplomaten mehr Erfolg.

Kann Ihnen die Schweiz noch auf anderem Weg helfen?
Wir brauchen humanitäre Hilfe und Geld. Und die Schweiz könnte ihren Neutralitätsstatus vielleicht auch als Verhandlungsmacht nutzen, zum Beispiel bei der Sperrung der Seewege. Russland muss die Seewege für Getreideexporte aus der Ukraine freigeben, um die Hungerkrise zu verhindern.

Wo stehen die Friedensverhandlungen mit Russland Ihrer Ansicht nach aktuell?
Nirgends. Es laufen Gespräche, aber in einer solchen Situation kann es nur um einen Waffenstillstand und die Rolle der Streitkräfte, den Austausch von Kriegsgefangenen und einige humanitäre Korridore gehen. Mehr nicht.

Sie waren bis 2019 ukrainische Ministerin für europäische Integration, sitzen jetzt dem parlamentarischen Ausschuss vor. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass die Ukraine je EU-Mitglied wird?
Zuerst muss der Krieg enden, das ist klar. Aber wir brauchen jetzt ein sehr klares Signal von den Ländern der Europäischen Union: den Beitrittskandidatenstatus. Wir Ukrainerinnen und Ukrainer sind bereit, die schwierige Aufgabe der Transformation nach den Regeln und Verfahren der Europäischen Union zu bewältigen, brauchen aber den Willen und das Engagement aller europäischen Länder auf diesem Weg. Ich denke, es wird von einigen führenden Personen abhängen, ob sie diese Aufgabe für sich persönlich als wichtig erachten oder nicht.

Sie sagen, der EU-Beitritt hänge zuallererst am Sieg. Aktuell müssen die ukrainischen Truppen im Osten auf offenem Feld kämpfen, was als viel schwieriger gilt, als eine Stadt wie Kiew zu verteidigen. Wie lange können sie Putins Truppen noch standhalten?
Das hängt wiederum davon ab, wie schnell uns unsere westlichen Partner schwere Waffen liefern: Artillerie, Raketen und Schiffsabwehrraketen, Multiple Launch Rocket Systems und all die Dinge, um die wir schon seit einiger Zeit bitten. Wir brauchen jetzt schwere Geschütze, um unsere tapferen Streitkräfte zu unterstützen. Wir werden kämpfen, solange wir atmen, denn es geht ums Überleben. Und wenn es das Letzte ist, was ich tun kann, werde auch ich als Abgeordnete kämpfen. Ein paar meiner männlichen Kollegen und eine Kollegin sind bereits an vorderster Front.

In Kriegs- und Krisenzeiten sind Anführer entscheidend. Selenski soll bereits mehr als ein Dutzend Mordanschläge überlebt haben. Was passiert, wenn er getötet wird?
Wir haben eine Verfassung, die ganz klar regelt, wer im Fall der Fälle seinen Posten übernimmt: der Vorsitzende des Parlaments. Selenski macht einen grossartigen Job, unsere Botschaft verschiedenen Zuhörerschaften zu überbringen, aber wir sind nicht von ihm abhängig. Es sind die Ukrainerinnen und Ukrainer, die Russland die Stirn bieten. Als Demokratie sind wir sehr wohl in der Lage, uns zu organisieren.

Wie geht es Ihnen dabei, von der friedlichen Schweiz wieder ins Kriegsgebiet zu reisen?
Es ist für mich gerade viel schwieriger, die Ukraine zu verlassen, als zurückzukommen. Ich vermisse mein Zuhause. Und ich konnte in Davos auch nicht einfach entspannen. Auch wenn hier keine Sirenen zu hören waren, reagieren wir sehr stark auf viele Dinge und Geräusche wie etwa von vorbeifahrenden Feuerwehrfahrzeugen. Oder man zittert, wenn man einen Helikopter oder ein Flugzeug hört.

Die Flüge in die Ukraine sind aus Sicherheitsgründen noch immer ausgesetzt. Wie kommen Sie zurück nach Kiew?
Ich nehme ein Flugzeug nach Budapest, dann fahre ich an die westliche Landesgrenze der Ukraine. Von dort holt mich ein Kollege aus der Westukraine mit dem Auto ab. Dort übernachte ich, dann fahre ich mit dem Zug nach Hause. Von jeder europäischen Hauptstadt nach Kiew dauert es zurzeit mindestens 24 Stunden.

Was nehmen Sie aus Davos mit?
Schokolade, die mir eine Kollegin geschenkt hat. Ermutigung, dass eine freie Welt für die Ukraine und die Ukrainer zusammenfindet. Aber auch ein bisschen Sorge darüber, wie wir die Einheit aufrechterhalten können.

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