Sexismus und Rassismus – diese Worte lösen bei Firmen Panik aus. Nichts fürchten Kommunikationsabteilungen mehr als Shitstorms. Die Migros geriet in wenigen Tagen gleich zweimal in einen solchen. Erst verbannte sie Eiweissschaum mit Schoggi-Überzug der Marke Dubler aus dem Sortiment, dann liess sie Papiersäcke mit Zeichnungen nackter Frauen einstampfen.
Und jetzt startet sie eine Öko-Offensive. Setzt die Migros neuerdings auf Polit- statt auf Rabatt-Aktionen?
Verwunderlich wäre es nicht. Wenn es ein Unternehmen gibt in der Schweiz, das mehr ist als gewinnorientiert, dann die Migros. Sie war von Anfang an ein sozialreformerisches Projekt. Gründer Gottlieb Duttweiler (1888–1962) hatte gar keine andere Wahl, als in die politische Arena zu steigen.
Dutti hatte das ganze Establishment gegen sich
Als er vor 95 Jahren fünf Ford-TT-Lastwagen aussandte, um den Leuten Mehl, Brot, Zucker und andere Güter des täglichen Bedarfs an die Haustüre zu liefern, brachte er das ganze Establishment gegen sich auf. Die alteingesessenen Händler hetzten Provokateure auf Migros-Kunden, die Nahrungsmittelindustrie untersagte ihren Mitgliedern Lieferungen, der Bundesrat erliess ein Filialverbot.
Doch Duttweiler liess sich nicht ausbremsen. Die Kundinnen überzeugte er mit tiefen Preisen und guter Qualität, die Öffentlichkeit mit einer politisch-publizistischen Offensive. Duttweiler gründete Zeitungen und eine eigene Partei, den Landesring der Unabhängigen, ging in den Nationalrat, lancierte Initiativen und Referenden. Davon verlor er zwar die meisten, doch die Botschaft kam trotzdem an.
Dutti war weder links noch rechts, er trat gegen Kartelle und Monopole an, forderte Markt und Wettbewerb, gleichzeitig setzte er sich für Zusammenhalt und Gemeinnutz ein. «Soziales Kapital» lautete seine politische Zauberformel. Schon 1935 schrieb er in die Migros-Statuten, dass der Reingewinn für wohltätige Zwecke zu verwenden sei. Um einer Enteignung durch die Nazis zuvorzukommen, wandelte er die AG in Kriegszeiten in eine Genossenschaft um.
Plötzlich war die Migros selber ein Machtfaktor im Land
Geschäftlich schadete das alles nicht. Im Gegenteil: Duttweiler war so erfolgreich, dass die Migros selber zu einem Machtfaktor im Land wurde – grösster Detailhändler, gleichzeitig Financier einer namhaften Partei. Seine Nachfolger fuhren das politische Engagement zurück. Der Landesring wurde liquidiert, das Kampfblatt «Wir Brückenbauer» sterilisiert zum politisch unverdächtigen «Migros-Magazin».
Duttis Erbe adelt die Migros noch heute, für die Manager ist es aber auch eine Last. Sie müssen den Spagat beherrschen zwischen sozialer Verpflichtung und knallhartem Wettbewerb. Das geht nicht ohne Verrenkungen.
Sexismus-Vorwurf fällt auf die Migros zurück
Der aktuelle Migros-Chef Fabrice Zumbrunnen (50) bekommt dies gerade zu spüren. Das Schoggi-Kuss-Aus wurde als mutiges Zeichen gegen Alltags-Rassismus gesehen. Das Einstampfen der Papiersäcke, welche die Migros bei einem Künstlerinnen-Trio bestellt hatte, trug ihr hingegen Sexismus-Vorwürfe ein. Denn wer sieht in unschuldiger Nacktheit etwas Anstössiges ausser Sexisten?
Auch der Kampf gegen das Plastik wird kritisch beäugt. Greenpeace wittert im vorgestellten Recycling-Konzept eine Scheinlösung, die den Verbrauch sogar noch steigern könnte. Zumbrunnen muss nun beweisen, dass es um mehr geht als nur um PR. Gelingt es ihm, das Abfallproblem zu lösen, hat er gewonnen. Zu gönnen wäre es ihm – und uns allen.