Als Reaktion auf die Invasion der Ukraine im Februar 2022 verhängten die G7- und EU-Staaten rasch scharfe Sanktionen gegen Russland. Regierungen, NGOs und auch viele Medien bauten Druck auf: Firmen sollten Russland verlassen und dort keine Geschäfte mehr tätigen.
Wie sieht die Situation ein Jahr nach Kriegsbeginn diesbezüglich aus? Aus Sicht der Sanktionsbefürworter: Ernüchternd. Eine Studie der Universität St. Gallen zeigt, dass sich westliche Unternehmen nur in sehr begrenztem Umfang aus Russland zurückziehen. Neun von zehn der untersuchten Unternehmen sind weiterhin im Geschäft mit Russland.
Trotz Sanktionen kaum Rückzüge
Als Russland in die Ukraine einmarschierte, waren insgesamt 2405 Tochtergesellschaften von 1404 EU- und G7-Unternehmen in Russland aktiv. Bis Ende November 2022 hatten gerade mal 8,5 Prozent dieser Unternehmen mindestens eine Tochtergesellschaft in Russland veräussert. Diese Veräusserungsraten haben sich seitdem kaum verändert.
Auf Anfrage von Blick bestätigt der Co-Autor der Studie, Simon Evenett (53), dass diese Zahl sämtliche Ausstiege beinhaltet – unabhängig davon, ob sie durch Sanktionen erzwungen wurden oder nicht. «Die Tatsache, dass der Prozentsatz der abgeschlossenen Exits so niedrig ist, einschliesslich der Sanktionen, ist bemerkenswert», sagt Evenett.
Noch bemerkenswerter wird es bei genauem Hinsehen: Von insgesamt 114 G7/EU-Unternehmen mit russischen Tochtergesellschaften, die im Rohstoff- und Agrarsektor tätig sind, haben gerade einmal 9 Russland verlassen. Das bedeutet, dass die Quote der abgeschlossenen Exits in den sensiblen Rohstoffsektoren mit 7,9 Prozent sogar unter dem Durchschnitt von 8,5 Prozent liegt. Gerade Rohstoffe stehen im Zentrum der Sanktionen gegen Russland.
Europäer bleiben vermehrt im Geschäft
Die bestätigten Veräusserungen durch EU-/G7-Firmen mit Kapitalbeteiligungen in Russland umfassen 6,5 Prozent des gesamten Gewinns vor Steuern aller untersuchten Firmen sowie 8,6 Prozent des Sachanlagevermögens, 8,6 Prozent der gesamten Aktiva, 10,4 Prozent der Betriebseinnahmen und 15,3 Prozent der gesamten Beschäftigten. Evenett stützt sich für die Studie auf Informationen aus der renommierten Unternehmensdatenbank Orbis.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die sich zurückziehenden Unternehmen im Durchschnitt eine geringere Rentabilität, aber eine grössere Belegschaft auswiesen. Das könnte laut Evenett beigetragen haben, dass sie in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen wurden.
Dabei haben sich aber gerade europäische Unternehmen kaum zurückgezogen. Firmen mit Sitz in den USA oder in Japan haben sich viel aktiver aus dem Russland-Geschäft verabschiedet. Dennoch deuten die Ergebnisse darauf hin, dass weniger als 18 Prozent der US-Tochtergesellschaften tatsächlich veräussert wurden. Bei japanischen Firmen waren es 15 Prozent, aus dem EU-Raum nur gerade 8,3 Prozent.
Von den in Russland verbliebenen westlichen Unternehmen sind 19,5 Prozent deutsche, 12,4 Prozent amerikanische und 7 Prozent japanische multinationale Unternehmen. «Diese Ergebnisse stellen die Bereitschaft westlicher Unternehmen infrage, sich von Volkswirtschaften abzukoppeln, die von den Regierungen ihrer Heimatländer inzwischen als geopolitische Rivalen eingestuft werden», schliesst Evenett. Die Studienergebnisse seien ein «Realitäts-Check» für die Behauptung, dass nationale Sicherheitsbedenken und geopolitische Erwägungen zu einer grundlegenden Rückabwicklung der Globalisierung führen.
Was ist mit der Schweiz?
Schweizer Firmen kommen in der Studie nicht vor. Auch solche aus Australien, Neuseeland, Norwegen oder Singapur nicht – allesamt wichtige Industrienationen, aber nicht Teil der G7 oder der EU. Laut Evenett hat sich die Studie auf Unternehmen aus der G7 und der EU konzentriert, «weil die beteiligten Regierungen die Führung bei der Verhängung von Sanktionen gegen Russland übernommen haben». Auf diese Länder entfällt zudem ein sehr grosser Anteil aller westlichen Unternehmen, die in Russland tätig sind. «Wir glauben deshalb, dass wir das Geschehen adäquat erfasst haben», so Evenett.
Aktuell wird übrigens eine gleiche Analyse für Schweizer Firmen durchgeführt.