Urs Jordi brachte im Sommer 2012 ein Stück Rahmkirschtorte mit, als er seine Mutter im Altersheim besuchte. Das Dessert stammte aus einer nahe gelegenen Bäckerei und nicht von Aryzta, dem Backwarenhersteller, für den er seit fünf Jahren das Europa-Geschäft leitete. Trotz der süssen Geste war die Stimmung seiner Mutter an diesem Tag getrübt. Sie hatte in der Zeitung gelesen, dass die zu Aryzta gehörende Grossbäckerei Hiestand, bekannt für ihre Gipfeli, Dutzende von Stellen streicht. «Bub, was machst du da?», fragte sie ihren Sohn. «Das war nicht ich. Das war mein Nachfolger», lautete seine Antwort.
Einige Wochen bevor er seine Mutter besuchte, hatte Jordi seine Tätigkeit als Topmanager bei Aryzta abrupt beendet. Ein Anruf des damaligen Finanzchefs Patrick McEniff hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Er solle 45 Mitarbeitende in der Schweiz entlassen, ordnete dieser an. Die Kosteneinsparungen hätten das Ergebnis in Europa rückwirkend für das gesamte Geschäftsjahr besser aussehen lassen. Doch abgesehen davon gab es keinen Grund für die Stellenstreichungen. Jordi weigerte sich, die Befehle der Zentrale auszuführen. «Ich habe danach gekündigt, weil ich mit der strategischen Ausrichtung nicht einverstanden war, mit einem Stellenabbau schon gar nicht», sagt Jordi heute.
Gipfeli bleiben der Verkaufsrenner
Mehr als zehn Jahre später ist er wieder da, als Verwaltungsratspräsident und Interims-CEO des Backwarenherstellers. Als er im September 2020 die Konzernleitung übernahm, stand Aryzta, die aus der Fusion von Hiestand und der irischen IAWS entstanden war, nahe am Kollaps. Wie ernst die Lage war, sah Jordi erst nach seiner Wahl in den Verwaltungsrat: Seine Vorgänger hatten einen Konkurs nicht mehr ausschliessen können. «Im Mai 2020 wurden Vorbereitungen getroffen, die alle möglichen Szenarien berücksichtigten», sagt Jordi heute.
Zum Worst-Case-Szenario kam es nicht. Der Schuldenberg des Konzerns, der sich über die Jahre unter der Führung des ehemaligen Managements um CEO Owen Killian anhäufte, ist zwar immer noch hoch. Doch operativ geht es in die richtige Richtung. Aryzta schaffte zwischen 2021 und 2023 neun Quartale mit zweistelligem organischem Wachstum, Marktanteile kamen hinzu, die Verschuldungsquote sank. Die Betriebsgewinnmarge soll bis 2025 ansehnliche 14,5 Prozent erreichen. «Mindestens 14,5 Prozent», betont der 59-jährige Jordi.
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288 Tausend Gipfeli
produziert Aryzta pro Tag allein in der Schweiz.
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26 Fabriken
betreibt das Unternehmen weltweit.
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2,2 Milliarden Euro
betrug der Umsatz 2023 – ein Plus von 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
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750 Tausend Tonnen
Backwaren stellt der Grossbäcker weltweit jährlich her.
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288 Tausend Gipfeli
produziert Aryzta pro Tag allein in der Schweiz.
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26 Fabriken
betreibt das Unternehmen weltweit.
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2,2 Milliarden Euro
betrug der Umsatz 2023 – ein Plus von 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
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750 Tausend Tonnen
Backwaren stellt der Grossbäcker weltweit jährlich her.
Er kennt sich nicht nur mit den Zahlen im Konzern aus. Wenn Jordi durch die Produktionshallen von Hiestand in Dagmersellen LU führt, geht er auf die Finessen der Backwarenproduktion ein. Er spricht vom angegorenen Teig und verwendet Begriffe wie «Hefekraft» und «flüssiger Vorteig». Die Herstellung der Hiestand-Gipfeli ist gerade in vollem Gang. Bis zu 288'000 Stück laufen über das Fliessband – am Tag. Kiloschwere Butterblöcke warten auf ihren Einsatz. Das Gebäck besteht zu fast 30 Prozent aus Fett.
Dabei ist Butter nicht nur Geschmacksträger, sondern hat eine weitere Funktion, wie Jordi im Detail erklärt. «Im laminierten Teig verdampft das Wasser beim Backen. Die Butterschichten blockieren den Dampf und sorgen dafür, dass das Gipfeli aufgeht.» Den Trend zu bewusster Ernährung spürt Aryzta. Bei den Broten sind dunklere Teige gefragt. Doch auch der Klassiker steht hoch in der Gunst der Kundschaft und gewinnt sogar an Beliebtheit. «Gipfeli sind für uns in der Schweiz ein Wachstumssegment.»
Weitere Produktion für das Gipfeli geplant
Demnächst wird das Unternehmen in Dagmersellen eine zusätzliche Produktionsanlage für das halbrunde Gebäck in Betrieb nehmen. Jordi selbst isst zum Frühstück allerdings lieber ein Müesli und einen Apfel, wie er offen sagt. Brot esse er trotzdem viel. Zum Beispiel, wenn er mal eine kurze Auszeit braucht. «Dann kaufe ich mir eine Tafel Milchschokolade und esse dazu ein feines Brötchen. Dann ist die Welt wieder in Ordnung.»
Und wie ist es für einen ausgebildeten Bäcker, Industriebrot mit Zusatzstoffen zu verkaufen, das einen Tag nach dem Kauf anstelle einer knusprigen eher eine gummiartige Konsistenz entwickelt? Jordi widerspricht: «In unserem Verfahren lassen wir die Teige mehrere Stunden ruhen.» Eine lange Liste mit E-Stoffen sei dabei schon seit Jahren tabu. Das käme bei den Konsumenten schlecht an. «Und unser Brot schmeckt auch noch am nächsten Tag», verspricht er.
Jordi ist quasi in der Backstube aufgewachsen. Seine Eltern führten eine Bäckerei in Muhen im Kanton Aargau. Im Familienbetrieb packten auch Jordi und seine drei Schwestern mit an, zum Beispiel vor dem Dreikönigstag, wenn besonders viel los war. Oder wenn in der Nacht viel Schnee gefallen war. Dann machte Jordis Vater im Zimmer seines Sohnes schon mal um 5 Uhr morgens Licht. Er solle den Parkplatz freischaufeln, damit die Kundschaft ihr frisches Brot ohne Hindernisse abholen konnte.
Das frühe Aufstehen störte Jordi offenbar nicht. Jedenfalls entschied er sich für eine Bäckerlehre. Jedoch war dies weniger eine Berufung. «Das war das Ergebnis einer Einfallslosigkeit. Mir war damals nicht wirklich klar, welche Alternativen es gegeben hätte.» Und da gab es noch die unausgesprochene Erwartung der Eltern, dass der einzige Sohn das Bäckerhandwerk erlernt.
Jordis Gesellenstück in Polen
Jordis fehlende Kreativität bei der Berufswahl spurte den Weg in die Chefetage von Hiestand vor. Nach einem Studium der Betriebsökonomie und mehreren Jahren als technischer Leiter bei der Migros-Grossbäckerei Jowa holte ihn Fredy Hiestand 1996 an Bord. Das Unternehmen hatte ein Problem mit seiner Fabrik in Polen, die er in einem Joint Venture mit einem lokalen Partner betrieb. Hiestand verlor dort Geld. Jordi fasste den Auftrag, das Geschäft innerhalb von zwei Monaten herunterzufahren und dichtzumachen. Er blieb sechs Jahre in Polen, krempelte den Laden derart um, dass die Gesellschaft zur rentabelsten von Hiestand aufstieg. «Aufräumen und flicken kann ich gut», sagt Jordi trocken.
Genau hinschauen kann er auch. Als Erstes fiel ihm bei seiner Ankunft in Polen auf, dass die Zahl der Mitarbeitenden auffällig hoch war. Die ausgedruckte lange Liste der Angestellten nahm er mit in die Fabrik. Er las alle Namen runter und bat alle Aufgerufenen, sich auf eine Seite zu stellen. Die Übung wiederholte er in der nächsten Schicht und stellte fest: Der polnische Partner hatte zahlreiche Freunde und Bekannte auf die Lohnliste gesetzt, die nie im Betrieb arbeiteten. Nachdem er weitere Missstände beseitigt und Schlüsselpositionen ausgetauscht hatte, ging es mit der Gesellschaft aufwärts. Die Zahl der Mitarbeitenden wuchs unter Jordi dank einer erfolgreichen Expansionsstrategie von 30 auf 700.
Das war die erste Restrukturierung, die Jordi bei der Grossbäckerei durchzog. Es sollten noch zwei weitere Sanierungsfälle werden. Für den Turnaround Nummer zwei kam Urs Jordi Ende 2002 aus Polen zurück in die Schweizer Zentrale. Fredy Hiestand hatte sich mit einer Expansion in den USA übernommen. «Verschiedene Stakeholder machten Druck, daher mussten wir uns führungsmässig neu aufstellen», sagt Jordi. Hiestand zog sich bald darauf vollständig aus dem Unternehmen, das er als 24-Jähriger gegründet hatte, zurück und verkaufte einen Grossteil seiner Aktien. Fünf Jahre nach dem Börsengang von Hiestand. Sein langjähriger Wegbegleiter Albert Abderhalden übernahm das Präsidium. Jordi rückte damals noch nicht ganz an die operative Spitze vor – er wurde unter CEO Wolfgang Werlé operativer Chef. «Gemeinsam haben wir das Unternehmen wieder auf solidere Beine gestellt.» Anfang 2007 reichte es dann doch für die Chefposition bei Hiestand. Dort blieb er allerdings weniger als zwei Jahre. Denn dann kamen die Iren.
Die Zeiten des Protzes
Heute schüttelt Urs Jordi den Kopf, wenn er an diese Zeit zurückdenkt. Er wurde Europa-Chef des zu Aryzta fusionierten Unternehmens, das eigentlich einer Übernahme von Hiestand durch IAWS entsprach. «Die ersten Jahre ging das noch gut, doch dann kamen die wilden Zukaufsaktionen.» Die meisten der zahlreichen Akquisitionen stellten sich für die Aktionäre im Nachhinein als teure Flops heraus.
Äusserst lukrativ waren die Übernahmen für den Machtzirkel rund um CEO Owen Killian. Mit einem Optionsplan sicherte sich Killian gemeinsam mit CFO Patrick McEniff und dem Amerika-Chef John Yamin rund 66 Millionen Franken. Dies trotz Fehlschlägen wie dem Kauf der französischen Ladenkette Picard für 450 Millionen Euro. Aryzta wurde damit zur Konkurrenz ihrer eigentlichen Zielgruppe, der Bäckereien und anderer Grosskunden. Viele wandten sich verärgert von Aryzta ab. Der Verkauf von Picard brachte Jahre später nur einen Bruchteil des Kaufpreises.
Derweil liebte es die irische Führungscrew protzig. Der Hiestand-Hauptsitz im Zürcher Vorort Schlieren war dem Aryzta-Management wohl etwas zu provinziell. Stattdessen zog man mitten in die Stadt Zürich, in Büros für das Aryzta-Topmanagement, die nur ein paar Gehminuten von der Bahnhofstrasse entfernt waren. «Das kostete mit Nebenkosten 750'000 Franken Miete pro Jahr. Nur um eine Adresse im Stadtzentrum vorzeigen zu können. Wie kann man nur!», nervt sich Jordi immer noch. Dabei gab es dort kaum Geschäftsparkplätze. Die Folge: Die Sitzungen des Verwaltungsrats fanden nicht am Aryzta-Sitz statt, sondern meist in Luxushotels wie dem Widder. Hat er als Europa-Chef seinerzeit auch von den Lohnexzessen profitiert? «Ich war sicher anständig bezahlt, aber weit weg von den exorbitanten Beträgen, die das Topmanagement später erhielt», sagt Jordi.
Heute hält der Verwaltungsrat seine Sitzungen wenn möglich in einer der weltweit 26 Fabriken des Unternehmens ab – oder in Schlieren, wo Aryzta nun wieder ihren Sitz hat. Die neue Bescheidenheit kommt auch bei der Kundschaft besser an. In der Zeit der Exzesse konnte etwa der einstige Coop-Chef Hansueli Loosli, bekannt für sein Kostenbewusstsein, sein Missfallen kaum verhehlen. Bis heute ist Coop mit den Pronto-Läden einer der wichtigsten Kunden für das Schweiz-Geschäft von Aryzta, das immer noch unter dem Namen Hiestand läuft.
Die «Mammutaufgabe»
Sanierung Nummer drei ist für Urs Jordi derweil noch nicht abgeschlossen. Aufgeräumt hat er aber schon einiges. Warum tut er sich das überhaupt noch einmal an, nach sieben Jahren Pause bei Aryzta? Er war mit einer eigenen Immobiliengesellschaft, VR-Mandaten und anderen Businessaktivitäten eigentlich ganz gut ausgelastet. «Ich habe es als Niederlage empfunden, dass ich Owen Killian und seine Leute nicht davon überzeugen konnte, dass sie auf dem falschen Weg waren.» Und da klang auch die Kritik nach, die er von ehemaligen Kollegen hörte. Er habe mit seinem Abgang den einfachsten Weg gewählt.
Weggefährten von Jordi sind überzeugt, dass er der richtige Mann für den Job bei Aryzta ist. «Er kennt das Business wie kaum ein anderer», sagt ein ehemaliger Topmanager der Grossbäckerei. Jordi habe sich bei seinen jeweiligen Aufgaben im Unternehmen nicht nur für die Geschäftsbereiche eingesetzt, sondern sich auch für seine Leute starkgemacht. Er verfüge über empfindliche Antennen beim Umgang mit Menschen, egal ob mit Mitarbeitenden, Geschäftskunden oder Aktionären, erzählt einer, der mit ihm über längere Zeit geschäftlich zu tun hatte. Das helfe ihm, Freunde und Feinde richtig einzuschätzen.
Mit Jordi im Reinen ist Firmengründer Fredy Hiestand, wie dieser heute erzählt. Nicht dass es einen Streit gegeben hätte. «Ich war von Jordi und anderen damals enttäuscht. Ich hätte gerne noch länger Verantwortung im Unternehmen übernommen», sagt Hiestand. «Es hat mich lange beschäftigt, dass ich seinerzeit aus Hiestand hinausgedrückt wurde. Heute ist die Welt für mich wieder in Ordnung.» Jordis Job bei Aryzta bleibe angesichts der hohen Schulden eine «Mammutaufgabe». Aber sie sei machbar, fügt Hiestand an.
Jordi zögerte denn auch zuerst, als er Mitte 2020 von Investoren rund um Veraison für den Job im Verwaltungsrat angefragt wurde. «Ich war mir nicht sicher, ob Aryzta noch zu retten ist.» Doch der Reiz war da. Er kannte auch noch viele Länderchefs aus seiner früheren Zeit im Unternehmen. Er entschloss sich, das Risiko einzugehen. Zu seinen Vertrauten gehörte der deutsche Unternehmer und Aryzta-Grossaktionär Heiner Kamps, auch er ein gelernter Bäcker. Im Verwaltungsrat wurde Jordi allerdings nicht als der grosse Retter empfangen – im Gegenteil. Es entbrannte ein Machtkampf im Gremium. Die eine Seite wollte Aryzta an den New Yorker Milliardär Paul Singer und dessen Hedgefonds Elliott verkaufen. Jordi und seine Verbündeten hielten das Angebot von 80 Rappen pro Aktie für viel zu niedrig. «Das war ein Wahnsinn und hätte eine Enteignung der Aktionäre bedeutet», sagt Jordi. Die Abwehrschlacht war erfolgreich.
Der Wert des Unternehmens hat sich seither mehr als verdoppelt. Die Aktie konnte das Stigma eines Pennystocks ablegen. Von den ursprünglichen Höhenflügen aus Zeiten der luftigen Versprechen des irischen Managements bleiben die Titel weiterhin meilenweit entfernt. Zur Entspannung der finanziellen Situation beigetragen hat der Verkauf des Geschäfts in Nordamerika und Brasilien. «Alleine dafür haben wir mehr eingenommen, als Elliott für das ganze Unternehmen geboten hatte.»
Viel hängt am Burger-Bun
Jordi hat als Erstes mehrere Managementstufen entfernt, Länderverantwortliche ausgetauscht und interne Talente befördert, wie Sandip Gudka, der in die Gruppenleitung aufgestiegen ist. Den Finanzchef Martin Huber holte er von Nestlé. Zudem gab es ein strengeres Spesenreglement, und auch bei der Entschädigung sind nun Schranken gesetzt. Das höchste Fixsalär liegt bei einer Million Franken. Jordi selbst hat 2023 in seinem Doppelmandat rund 2,7 Millionen verdient.
Der Fokus des Unternehmens mit einen Umsatz von rund 2,2 Milliarden Euro liegt nun auf Aufbackwaren für Europa und Asien. Das sind in Bezug auf die Essgewohnheiten zwei sehr unterschiedliche Märkte. In Europa liegt der Pro-Kopf-Konsum von Brot bei über 70 Kilo, in Asien bei 23 Kilo. Weltweit ist nicht das Gipfeli das wichtigste Produkt von Aryzta, sondern das Hamburgerbrötchen. Von Schweden bis Australien verkauft Aryzta Buns. Der Fastfoodriese McDonald’s macht rund zwölf Prozent des Konzernumsatzes aus, und auch andere Imbissketten gehören zur Kundschaft. Dabei kommt je nach Land eine leicht unterschiedliche Rezeptur für die Burger-Buns zum Einsatz, etwa was den Zuckeranteil betrifft. Beim Erhitzen des Buns karamellisiert der Zucker, und es entsteht eine Kruste. Sie bildet eine Barriere für Ketchup und andere Saucen, damit das Brot nicht matschig wird. Je nach Region mag es die Kundschaft etwas mehr oder weniger knusprig.
Anfang Jahr kam dieses Geschäft unter Druck. Nach dem Ausbruch des Gaza-Kriegs boykottierten viele Menschen muslimischen Glaubens Fast-Food-Ketten aus den USA. In Ländern wie Malaysia brach der Umsatz von Aryzta zeitweise zusammen. Im ersten Quartal stagnierte denn auch der Konzernumsatz. Bis Ende Jahr soll es wieder ein organisches Wachstum im prozentual einstelligen Bereich werden. Die steigenden Lebensmittelkosten spielen dem Unternehmen eher in die Hände. «Brot kauft man auch, wenn das Budget unter Druck gerät», sagt Jordi. Und noch ein anderer Faktor spricht für Gebäck: das steigende Umweltbewusstsein in Unternehmen und in der Öffentlichkeit. Im Vergleich zu anderen Lebensmitteln ist Brot ein klimafreundlicher Sattmacher.
Nach dem radikalen Umbau kümmere man sich jetzt um «gesunde Herausforderungen», zum Beispiel die Nachfolgeregelung. Jordis Tage als Interims-CEO sind gezählt. «Bis Ende 2024 werden wir den neuen CEO ernennen. Es wird jemand sein, der das Bäckereibusiness gut kennt», sagt Jordi. Dass der neue Chef etwas vom Bäckerhandwerk versteht, ist ihm wichtig. Sein Vorgänger Kevin Toland kannte sich mit Flughäfen besser aus als mit Brot. Er war vom grössten irischen Flughafenbetreiber zu Aryzta gestossen.
Mit Flughäfen ist auch Jordi bestens vertraut. Er pflegt den Kontakt mit den wichtigsten Kunden in den bedeutenden Märkten und will jeweils genau wissen, wie das Geschäft vor Ort funktioniert. Jüngst war er in Paris. Um 4.30 Uhr morgens ging er ausnahmsweise nicht joggen, so wie er das sonst um diese Zeit macht. Er stieg in den Lieferwagen eines Austrägers. Dabei ging es von der Hotelküche des Four Seasons bis zum fünf auf fünf Meter kleinen Shop in einer U-Bahn-Station. Rund 40'000 solcher Abnehmer für Croissants, Pains au Chocolat und anderes aus Teig hat Aryzta in Frankreich. «Wir beliefern sieben Tage pro Woche», betont Jordi. So können Hotels am Samstag noch Gebäck fürs Frühstücksbuffet nachbestellen, wenn viele spontane Buchungen eintreffen.
Den Puls in den wichtigen Märkten Aryztas fühlen will Jordi auch, wenn er sich auf das Amt des Präsidenten zurückgezogen haben wird. Von seinem Wohnort in Rütihof AG ist er in 35 Minuten am Flughafen Zürich, wenn er, wie üblich frühmorgens, vor dem Pendelverkehr losfährt. Tokio, Warschau und Barcelona standen jüngst auf dem Programm. Jordi lebt seit über 20 Jahren mit seiner Frau unweit von Muhen AG, wo er aufgewachsen ist. Ihre beiden Söhne, 24 und 16 Jahre alt, leben auch noch dort. Dem Aargau ist die Familie also treu geblieben. Mit ein Grund: Hier hat auch seine Frau ihr soziales Umfeld. Sie hat Jordi in Polen kennengelernt. Sie arbeitete dort seinerzeit im Verkaufsteam für den Grossbäcker. Heute ist sie im Immobilienbereich tätig.
Applaus für Fredy Hiestand
Zur Familie gehören zwei über 20-jährige Pferde, die einst Rennen gelaufen sind. In Rütihof geniessen die Tiere ihren Ruhestand mit viel Auslauf. Jordi hat das Reiten schon vor fünf Jahren aufgegeben. Ihm fehlte die Zeit. «Die Muskeln und der Bewegungsapparat müssen sich aufs Reiten einstellen. Das braucht Übung, sonst wird es schnell gefährlich.»
Seine beiden Pferde will Jordi auch nach seinem Rücktritt als CEO in Ruhe lassen. Er hat mit Aryzta noch viel vor und will als Präsident das angepeilte Wachstum ohne grossspurige Zukäufe, wie sie unter dem irischen Management Usus waren, erzielen. Akquisitionen sind demnach völlig tabu? «Ich bin ein Fan von organischem Wachstum», sagt Jordi. Der Zeitgeist spielt dem Unternehmen in die Hände. Kleinere Bäckereien verschwinden. Nicht unbedingt, weil die Kundschaft fehlt, sondern der Nachwuchs, der das Geschäft übernehmen könnte. Grosse Bäckerei- und Supermarktketten, die Kunden von Aryzta, profitieren von diesem Trend. Jordi will Übernahmen aber nicht ausschliessen. «Logischerweise könnte eine Konstellation entstehen, wo wir uns fragen müssen, ob es klug ist, die Gelegenheit an uns vorbeigehen zu lassen.» Vorerst gilt es allerdings, den Schuldenberg des Unternehmens weiter abzutragen. Das wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Die Generalversammlung von Ende April lief harmonisch ab. Anwesend war auch der 81-jährige Fredy Hiestand, der seit 2003 eine eigene Grossbäckerei mit inzwischen 50 Millionen Franken Umsatz betreibt. Jordi erwähnte vor den Aktionären die Anwesenheit des Firmengründers, worauf dieser anerkennenden Applaus erhielt. Und wie lange will Urs Jordi als Präsident den strategischen Kurs von Aryzta bestimmen? «Ich habe kein Ablaufdatum», sagt er.