Nach der Untersuchung von Belästigungsvorwürfen beim Westschweizer Radio und Fernsehen RTS verlassen der TV-Chefredaktor und der Leiter der Personalabteilung den Sender. SRG-Generaldirektor Gilles Marchand (59) und RTS-Chef Pascal Crittin (52) dürfen bleiben.
Der Fall bewegt die Medienwelt und die Politik. Doch sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist eigentlich ein Thema, das jeden etwas angeht. «Es betrifft alle Branchen, alle Altersgruppen und beide Geschlechter, wenn auch in unterschiedlichem Umfang», sagt Rechtsanwältin Corina Ursprung (48) zu Blick. Sie hat sich bei Legal Partners Zurich auf die Beratung von Unternehmen und Privatpersonen in den Bereichen Arbeits- und Gleichstellungsrecht spezialisiert.
Kündigungsschutz für Betroffene
Die Schweiz hat sexuelle Belästigung beim Job im Gleichstellungsgesetz geregelt. «Wer eine Frau oder einen Mann am Arbeitsplatz belästigt, wer andere mit Worten, Gesten oder Taten demütigt, verletzt geltendes Recht», heisst es darin.
Eine gesetzliche Grundlage ist also vorhanden. Für Betroffene, die ihren Fall den Vorgesetzten melden wollen, ist das wichtig. In Artikel 10 des Gleichstellungsgesetzes ist ein Kündigungsschutz vorgesehen, sagt Corina Ursprung. «Dieser gilt für die Dauer des Beschwerdeverfahrens sowie sechs Monate darüber hinaus.»
Trotzdem gebe es viele Betroffene, die sexuelle Belästigungen über sich ergehen lassen, ohne die Vorfälle zu melden. «Es gibt nach wie vor grosse Hemmungen», sagt Ursprung. Die Angst, dass man nicht ernst genommen werde, kennen viele Frauen.
Opfer sollen Tagebuch führen
Für die Betroffenen hat die Expertin konkrete Tipps. «Das belästigende SMS nicht löschen, auch wenn es noch so widerwärtig ist», sagt sie. Dieses könnte später als Beweisstück wichtig werden.
Auch sollen die Opfer eine Art Tagebuch führen. «Aufschreiben, was wann vorgefallen ist und wie es sich angefühlt hat», empfiehlt Ursprung. Die Gefahr bestehe nämlich, dass die andere Seite verletzende Aussagen verniedliche. «Und wenn man nicht mehr genau weiss, was gesagt wurde, glauben plötzlich auch die Betroffenen, dass es gar nicht so schlimm war.»
Firmen sollen externe Fachstelle haben
Corina Ursprung nimmt die Firmen in die Pflicht. Diese sind für ein gutes Arbeitsklima verantwortlich. Dass intern niemand diskriminiert wird, sei auch im unternehmerischen Interesse des Arbeitgebers. «Bei Vorfällen drohen Unruhen im Team, Krankheitsfälle und Entschädigungsklagen», zählt Ursprung auf. Prävention sei wichtig.
Sie rät Unternehmen zu einer externen Fachstelle. «Diese sollte nicht nur im Organigramm getrennt sein, sondern auch räumlich», sagt Ursprung. Dort sollten sich Betroffene rechtlich, aber auch psychologisch beraten lassen können. «Wichtig ist, dass dieses Angebot niederschwellig ist. Ein Telefonanruf oder ein E-Mail sollte reichen, um einen Termin zu vereinbaren», sagt sie. Sollte nach einer Beschwerde eine Untersuchung durchgeführt werden, so sei es zentral, dass diese von einer unabhängigen Stelle durchgeführt wird.
Weiter sollen die Vorgesetzten bewusst darauf achten, dass sexuelle Belästigung an ihrem Arbeitsplatz nicht vorkomme. «Die meisten Firmen haben Leitfäden und Prozesse zum Thema», so Ursprung. Damit sei es aber nicht getan. «Man muss eine gesunde Kultur schaffen und klar signalisieren, dass Fehlverhalten nicht geduldet wird.»
Verbesserung dank MeToo-Bewegung
Laut Ursprung kommt sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz immer noch öfter vor als erwartet. Sie geht von einer hohen Dunkelziffer aus. «Diese nimmt aber in der Tendenz eher ab», glaubt sie. «In den letzten fünf Jahren ist ein Ruck durch die Gesellschaft gegangen.»
Einen wesentlichen Anteil daran hat nach Ansicht von Ursprung die MeToo-Bewegung, die 2017 von Amerika in die Schweiz hinübergeschwappt ist. «Der Kulturwandel ist im Gang, und das Thema wird heute ernster genommen», so Ursprung.