«Bei 12 °C kann man viel besser schlafen, als bei 27 °C»
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Kathrin Bill (39):«Bei 12 °C kann man viel besser schlafen, als bei 27 °C»

Schwitzende Städter suchen Abkühlung in der Höhe
In Bivio GR laufen nur die Drähte heiss

Anhaltenden Hitzewellen sei Dank: Der befürchtete Einbruch nach Corona ist bei den Schweizer Berghotels nicht eingetroffen. Davon zeugt das Hotel Solaria in Bivio GR – einer der kühlsten Ortschaften der Schweiz.
Publiziert: 10.08.2022 um 01:22 Uhr
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Aktualisiert: 10.08.2022 um 08:36 Uhr
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Keine 25 Grad Celsius in der Mittagssonne in Bivio GR, davon profitiert Hotelier Gregorio Torriani.
Foto: fotoswiss.com/cattaneo
Levin Stamm

Ein angenehmes Lüftchen weht durch die Durchfahrtsstrasse von Bivio GR. Selbst kurz vor Mittag zeigt die Wetter-App nicht mehr als 19 Grad Celsius an. Der 217-Seelen-Ort steht dieser Tage im krassen Gegensatz zum hitzegeplagten Unterland.

Aufgezeichnet wird die Temperatur etwas ausserhalb des Dorfs, das auf knapp 1800 Metern über Meer liegt. Dort steht gleich neben der Julier-Passstrasse eine von 151 Messstationen, die von Meteo Schweiz betrieben werden. Im Juli registrierte sie eine Durchschnittstemperatur von 13,5 Grad Celsius. Der tiefste Wert aller Stationen, die sich in der Nähe eines Dorfs oder einer Stadt befinden. Bivio ist im Hitzesommer 2022 eine der kühlsten Ortschaften der Schweiz.

Befürchteter Einbruch tritt nicht ein

In Bivio gibt es keinen Dorfkern. Dafür eine Durchfahrtsstrasse, die seit Jahrzehnten die Reichen und Schönen in ihren Porsches und Ferraris über den Julierpass nach St. Moritz GR führt. Keine Hundert Meter abseits steht das Hotel Solaria. Hier richtet Gregorio Torriani (36) die Sitzkissen auf der Terrasse. Es ist niemand zu sehen, aber der Schein trügt. «Unser Hotel ist momentan ausgebucht. Praktisch alle Gäste sind gerade am Wandern in den Bergen», sagt der Hotelier.

Torriani ist erleichtert. Vor Beginn der Sommersaison fürchteten die Hoteliers in den Bündner Tälern – nun, da die Grenzen ins Ausland wieder uneingeschränkt offen sind – einen Einbruch der Gästezahlen. Eingetroffen ist das Gegenteil, hitzeflüchtigen Unterländern sei Dank.

Die Hotellerie-Verbände bestätigen gegenüber Blick: Bergregionen knüpfen dank daheim gebliebenen Schweizern am Erfolg der letzten Jahre an. «Klettern die Temperaturen im Unterland auf über 30 Grad, laufen bei uns die Drähte heiss», sagt Torriani. Im Vergleich zur bereits rekordverdächtigen Vorsaison hat sein Betrieb den Umsatz um 20 Prozent gesteigert.

«Das Tessin war uns zu heiss»

Kurz nach Mittag trudeln die ersten Gäste im Hotel ein. Das Thermometer, das Torriani in der Hand hält, zeigt auch in der Mittagssonne nur 24 Grad Celsius. Zum Vergleich: Genf verzeichnet am selben Tag 38,3 Grad Celsius – im Schatten! Das ist Schweizer Jahresrekord.

Auf der Terrasse sitzt Familie Bill aus dem Emmental, zurück von der morgendlichen Wanderung. Endlich wieder im kühlen Bündnerland. «Wir haben kürzlich mal das Tessin für Ferien ausprobiert, aber da wurde es uns zu heiss», sagt Kathrin Bill (39).

In Bivio werden volle Gasthäuser besonders geschätzt. Hier schüttelt man eine gute Saison nicht aus dem Ärmel wie in St. Moritz GR. In Bivio beschränkt sich das Exklusive und Edle auf eine Bezeichnung, die auf die 60er-Jahren zurückgeht. Damals prägte ein Lebensmittelhändler namens Perl den Ort. Perl war auch Dorfpräsident und bescherte Bivio den Nicknamen «Die Perle am Julier». Perls Laden ist inzwischen ein Kinderhort, der Übername ist geblieben.

Der Übername symbolisiert, was die Bivianer mit ihrer Nähe zu St. Moritz erreichen wollten: sich ein Stück des Kuchens abschneiden. Gelungen ist das nie wirklich. Bis heute haftet dem Dorf der Ruf des verschlafenen Durchfahrtsorts an – zu Unrecht, wie viele finden. Trotzdem braucht es Tiefpreise und Hitze im Unterland, um den Leuten die Fahrt über den Julierpass oder die lange Reise von Chur durch das Oberhalbstein schmackhaft zu machen.

Der «Durchfahrtsort» lebt wieder auf

Gregorio Torriani führt das Hotel Solaria in vierter Generation. Vor drei Jahren hat er es von Vater Giancarlo (74) übernommen. Dieser sagt stolz: «Nicht jeder Hotelier kann behaupten, dass die Nachkommen übernehmen.»

Und die Nachkommen geben mächtig Gas. Beim alten Militärbunker, auf einem Hügel hoch über Bivio, stellen sie eine Konzertbühne und ein Festzelt auf. Trotz angenehmem Bergwetter fliesst der Schweiss. Die Jungen organisieren ein dreitägiges Open Air. Sie erwarten rund 400 Besucher, die hier der Hitze entfliehen und oben Zelte aufschlagen – oder unten im Dorf ein Hotelzimmer buchen.

«Das kühlste Sommer-Festival der Schweiz!», wirbt Co-Organisatorin Marie-Hélène Froidevaux (37). Ursprünglich aus Wil SG, lebt sie seit einigen Jahren in der Region – auch der angenehmen Temperaturen im Sommer wegen. Sie ist nicht die einzige ihres Alters, die aus dem Unterland kommt und die Gegend mit frischem Blut versorgt. In Bivio ist die Einwohnerzahl in den letzten fünf Jahren um 20 Prozent gestiegen, nachdem sie zuvor kontinuierlich gesunken war.

«Sommersaison wird immer wichtiger»

In diesen Tenor stimmt Gian-Marco Thomann (33) ein. Mit Hotelier Torriani und weiteren Freunden hat er 2019 das Sportgeschäft zurück ins Dorf gebracht. Einst lag der Fokus ganz auf der Wintersaison, nun haben die wärmeren Winter und heisseren Sommer das Geschäft verändert. Bikes und Wandersocken sind zur wichtigen Einnahmequelle geworden. «Die Sommersaison hat extrem Potenzial, sie wird immer wichtiger», sagt er.

Junge Menschen, lebendiges Dorfleben, Rückkehr des Gewerbes und vor allem die vielen Hitzeflüchtigen: In Bivio stört es niemanden mehr, wenn die Fahrer von Porsches und Ferraris auf dem Weg nach St. Moritz nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf werfen.

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