Die Schweiz gilt als eines der reichsten Länder der Welt. Trotzdem stossen auch hierzulande immer mehr Menschen finanziell an ihre Grenzen. Die Zahlen des Bundes zeigen das zwar noch nicht, denn sie hinken der Realität hinterher. Gemäss der aktuellsten Auswertung waren 2021 rund 745'000 Menschen von Einkommensarmut betroffen. Die wachsende Nachfrage in Caritas-Läden oder bei den Gassenküchen zeigt jedoch: Die Armut nimmt zu.
«Seit Beginn des Ukraine-Kriegs ist der Umsatz bei unseren Caritas-Märkten um 40 Prozent gestiegen», sagt etwa Philipp Holderegger (53) von Caritas St. Gallen Appenzell zur Gratiszeitung «20 Minuten». Die Organisation lindert und bekämpft die Armut in der Schweiz. Bei Caritas ist man beunruhigt: Die Entwicklung sei ein klares Alarmsignal.
Arme leiden stärker unter Teuerung
Auch wenn die Teuerung in der Schweiz seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs am 21. Februar 2022 deutlich tiefer ausfiel als in anderen Weltregionen: Die Preise vieler Güter des täglichen Gebrauchs haben deutlich angezogen. Hinzu kamen zuletzt massive Kostensteigerungen bei den Wohnnebenkosten, die gerade ärmere Menschen übermässig stark treffen.
Wohnen sie doch oft in älteren, schlecht isolierten Gebäuden, in denen etwa die Kosten fürs Heizen deutlich stärker gestiegen sind. Gleichzeitig verteuern sich wegen des höheren Referenzzinssatzes auch die Bestandsmieten. Und die massiv höheren Krankenkassenprämien fehlen in der Inflationsstatistik gänzlich.
So überrascht es wenig, dass in den kleinen Caritas-Supermärkten regelmässig neue Kundschaft auftaucht. «Zurzeit kommen jeden Tag neue Gesichter, das fällt auf», sagt Holderegger zur Gratiszeitung. Aktuell wären 15 Prozent der Bevölkerung – also etwa ein Sechstel – zum Einkauf bei Caritas berechtigt. «Dies dürfte im kommenden Jahr weiter ansteigen», erwartet Holderegger.
Gassenküchen erleben Ansturm
Die klammen Finanzen vieler Haushalte machen sich auch in den günstigen Gassenküchen-Angeboten bemerkbar: In Basel hat die Nachfrage von Mitte Juni bis September um 20 bis 25 Prozent zugelegt.
Die Gassenküche in St. Gallen stösst gar an ihre Grenzen. Die Nachfrage hat sich seit dem Frühjahr verdoppelt. «Wir haben zuerst gedacht, es habe mit dem kalten und nassen Wetter im März und April zu tun», sagt Regine Rust (51), Geschäftsleiterin der Stiftung Suchthilfe St. Gallen, zu SRF. Die Zahlen seien jedoch auch im Sommer nicht zurückgegangen. Die Entwicklung in den Gassenküchen zeigt für Rust klar: «Hier wird die schleichende Armut sichtbar.»
Bleibt der Ansturm in der Gassenküche derart gross, müsse man sich einen Umzug in grössere Räumlichkeiten überlegen, so Rust. Für die Organisation wäre das eine Mammutaufgabe. Sie wird mit Spendengeldern finanziert. Doch das Ziel sei klar: Man will auch in Zukunft niemanden hungrig nach Hause schicken. (smt)