Die Zahlen eines neuen Unicef-Berichts lassen aufhorchen: Die Kinderarmutsquote stieg in der Schweiz in den letzten Jahren um 10 Prozent. Von den 39 Ländern, die in der Studie betrachtet worden sind, verzeichnet die Schweiz den vierthöchsten Anstieg. Eine grössere Zunahme gab es nur in Frankreich, Island und Grossbritannien.
Somit leben laut der Studie mit dem Titel «Kinderarmut inmitten von Reichtum» ungefähr 18 Prozent der Schweizer Kinder in Armut. Im internationalen Vergleich sieht auch dieser Wert schlecht aus. Das Wohlstandsland Schweiz (80'400 Fr. BIP pro Kopf) belegt im Unicef-Bericht nur Platz 21 von 39 bei der Kinderarmut. Vor der Schweiz liegen viele Länder, die deutlich ärmer sind: Auf Platz 2 ist Slowenien (25'600 Fr. BIP pro Kopf), auf Platz 8 Polen (15'700 Fr. BIP pro Kopf). In der Rangliste sind nur OECD-Länder und EU-Mitgliedstaaten aufgeführt.
Es zählt die «relative Armut»
Wie kommt der Bericht auf ein solches Resultat? Die Zahlen beziehen sich auf die relative Kinderarmut in der Schweiz. Das bedeutet, dass die realen Lebensbedingungen der Schweizer Kinder für die Studie nicht betrachtet worden sind. Denn «relativ arm» ist laut Unicef-Bericht jeder Haushalt, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in der Schweiz zur Verfügung hat. Die Grösse des Haushalts wird dabei berücksichtigt, da sie je nachdem zu mehr oder zu weniger Ausgaben führt.
Die relative Armut ist also nicht zwingend von ungenügenden Lebensstandards abhängig. Dies ist auch einer der Gründe, warum sie in der Fachwelt umstritten ist. Trotzdem berufen sich viele Organisationen darauf, zum Beispiel die Caritas.
«Wir wissen, dass Kinder ein Leben in relativer Armut von der Geburt an beeinflusst», erklärt Gwyther Rees, Co-Autor des Unicef-Berichts. «Im Durchschnitt sind sie beispielsweise schlechter in der Schule.» Zudem fühlten sich Kinder in Familien, die weitaus weniger als der Durchschnitt verdienen, vermehrt vom sozialen Leben ausgeschlossen.
Wie begründet die Unicef den Anstieg?
Doch woran liegt nun die Zunahme der relativen Kinderarmut in der Schweiz? Rees sagt, dass man die Situation in der Schweiz einzeln analysieren müsse, um diese Frage zu beantworten. Mögliche Erklärungen seien, dass der Staat weniger Geld investiere, um Kinderarmut zu bekämpfen, Sozialleistungen weniger grosszügig seien oder die Einkommen nicht mit den steigenden Preisen Schritt hielten.
Rees empfiehlt der Schweiz die Massnahmen, die auch bei besser platzierten Ländern zum Erfolg geführt hätten: Das erstplatzierte Polen hat Kindergeld für alle eingeführt, das zweitplatzierte Slowenien ein neues Mindestlohngesetz.
Die Frage, ob sich die Lebensbedingungen für Schweizer Kinder in der Realität wirklich verschlechtert haben, kann Rees jedoch nicht beantworten. Gemäss der Studie ist die relative Armut stark von der Einkommensungleichheit abhängig. Diese ist in der Schweiz beträchtlich und könnte für das schlechte Abschneiden der Schweiz mitverantwortlich sein.