Armutsfalle: Alleinerziehend
Ein Job – doch kein Geld für Kleider

Weil alles teurer wird, rutschen immer mehr Menschen in die Armut. Was es heisst, trotz Arbeit von der Sozialhilfe zu leben, weiss Amelia Ventura.
Publiziert: 10.09.2023 um 17:07 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2023 um 10:53 Uhr
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Amelia Ventura, 26, lebt mit ihren beiden Töchtern von 1750 Franken im Monat.
Foto: Philippe Rossier
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Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

Einkaufen bedeutet für Amelia Ventura vor allem eines: planen, vergleichen, und rechnen. Früchte kauft sie nur im Denner, Hygieneprodukte nur im Otto’s. Alles Weitere im Caritas-Markt. Zu Aldi oder Lidl geht sie nur bei Aktionen. Auf einer App vergleicht sie jeweils, wer welche Aktionen anbietet.

Amelia Ventura, 26 und Mutter zweier Töchter (6 und 7), ist eine von 745'000 Personen in der Schweiz, die am Existenzminimum leben und von Sozialhilfe abhängig sind. Nach Abzug von Miete und Krankenkassenprämien bleiben der Familie 1750 Franken monatlich zum Leben.

Ventura sitzt in der Stube ihrer 3,5-Zimmer-Wohnung in Zürich-Altstetten zwischen Fantasy-Büchern und K-Pop-Plakat. Fast alles ist geschenkt: der Fernseher von der Mutter, weil diese ihn zu gross fand, das Regal von der Sozialarbeiterin, das Bett vom Bruder, der Teppich von der Cousine.

Sozialhilfequote liegt in der Schweiz bei 3,1 Prozent

Rechnen kann sie gut, das merkt man schnell. Sie weiss genau, welche Monate am schwierigsten sind: Januar, Juli und August. Dann sind Rechtsschutzversicherung und Nebenkosten fällig, im Juli das Halbtax und die Ausrüstung fürs neue Schuljahr, im Januar die Serafe-Gebühren. Kommen dann noch ungeplante Ausgaben hinzu wie beispielsweise eine Reparatur, weil die Tochter ein Loch in die Küchentür gemacht hat, reicht es nicht mehr. Im Januar ging Ventura das Geld für Lebensmittel aus. Eine Person aus einer Facebook-Gruppe musste ihr mit Spenden aushelfen.

Jeder Betrag, den sie ausgibt, ist genau überlegt – zum Beispiel die Zusatzversicherung für die Kinder. Die ältere Tochter ist mit Cerebralparese zur Welt gekommen, zeitweise war sie mit ihr fast täglich im Triemli-Spital. Was sie für die Kinder ausgibt, spart sie bei sich ein: Beim Besuch trägt sie ein weisses Shirt, das ihr viel zu weit ist – es stammt aus der Zeit, in der sie 140 Kilogramm wog. Das Letzte, was sie für sich gekauft hat, sind Trainerhosen für fünf Franken von Chicorée. «Aber nur, weil ich noch einen Zehn-Franken-Gutschein hatte.» Ein Coiffeurbesuch liegt nicht drin, Schminke auch nicht.

Generell ist sie für vieles auf die Unterstützung anderer angewiesen: In diesem Jahr etwa konnte sie nur zurück in ihre Heimat, die Dominikanische Republik, die kranke Grossmutter besuchen, weil ihre beste Freundin die Reise finanzierte. Die Grossmutter starb noch während Ventura unterwegs war.

Armut hat in der Schweiz ein Gesicht, und zwar: Frau, alleinerziehend, schlecht ausgebildet. Die Sozialhilfequote liegt schweizweit bei 3,1 Prozent. Junge alleinerziehende Mütter hingegen, die in Städten leben, sind zu 80 Prozent auf Sozialhilfe angewiesen.

Niels Jost von der Caritas Schweiz sagt, externe Betreuung sei für Alleinerziehende häufig zu teuer und nicht alle hätten die Unterstützung von Freunden oder der Familie. Viele könnten deshalb nur in tiefen Pensen arbeiten. Im Tieflohnsektor werde die Situation schnell prekär. Prämienverbilligungen, Ergänzungsleistungen sowie der Ausbau einer bezahlbaren Kinderbetreuung wären für die Armutsprävention zentral.

Rekordnachfrage bei Caritas – vielen Familien droht die Armut

Lebensmittel, Mieten, Krankenkassenprämien – in der Schweiz wird alles teurer. Caritas Schweiz verzeichnet eine «überdurchschnittlich hohe Nachfrage» in ihren Märkten. Aktuell zähle man rund 90'000 Einkäufe pro Monat, schreibt ein Sprecher. Das seien nochmals zwölf Prozent mehr als im Vorjahr 2022, das bereits ein Rekordjahr war.

Auch Schuldenberatungen und Einzelfallhilfen hätten tendenziell zugenommen. Heute dauere es viel länger, bis Betroffene finanziell wieder Stabilität finden. Viele konnten sich von der Pandemie finanziell gar nicht erholen und werden nun mit der nächsten Herausforderung konfrontiert, der Teuerung.»

2021 waren 745'000 Schweizerinnen und Schweizer arm. Weit mehr Menschen – fast 1,3 Millionen – sind jedoch armutsgefährdet, leben nur knapp über dem Existenzminimum. Laut Caritas befinden sich besonders Familien häufig in einer schwierigen finanziellen Lage. Es ist unvermeidlich, dass in der aktuellen Situation insbesondere viele Familien unter die Armutsgrenze rutschen.»

Lebensmittel, Mieten, Krankenkassenprämien – in der Schweiz wird alles teurer. Caritas Schweiz verzeichnet eine «überdurchschnittlich hohe Nachfrage» in ihren Märkten. Aktuell zähle man rund 90'000 Einkäufe pro Monat, schreibt ein Sprecher. Das seien nochmals zwölf Prozent mehr als im Vorjahr 2022, das bereits ein Rekordjahr war.

Auch Schuldenberatungen und Einzelfallhilfen hätten tendenziell zugenommen. Heute dauere es viel länger, bis Betroffene finanziell wieder Stabilität finden. Viele konnten sich von der Pandemie finanziell gar nicht erholen und werden nun mit der nächsten Herausforderung konfrontiert, der Teuerung.»

2021 waren 745'000 Schweizerinnen und Schweizer arm. Weit mehr Menschen – fast 1,3 Millionen – sind jedoch armutsgefährdet, leben nur knapp über dem Existenzminimum. Laut Caritas befinden sich besonders Familien häufig in einer schwierigen finanziellen Lage. Es ist unvermeidlich, dass in der aktuellen Situation insbesondere viele Familien unter die Armutsgrenze rutschen.»

Mit der Teuerung verschärfte sich Venturas Situation zusätzlich. Erstmals musste sie Stromkosten nachzahlen, 120 Franken alle drei Monate. Bei den Nebenkosten erhält sie nichts mehr zurück. Ein Wocheneinkauf – früher zwischen 60 und 70 Franken – koste nun fast 100 Franken. Fleisch gebe es noch seltener als zuvor. Auf Milch, Eier, Gemüse und Früchte kann sie nicht verzichten: «Wenn man Kinder hat, muss man das kaufen.»

Vor allem die Strompreise machen ihr Sorgen. «Ich habe gelesen, dass sie um bis zu 34 Prozent steigen. Wenn das so weitergeht, reicht das Geld niemals. Dann werden die Kinder leiden.» Angst hat sie nur um ihre Kinder: «Dass sie wegen unserer Situation ausgeschlossen werden.» Ventura hat es im früheren Job selbst erlebt: Wenn die Kollegen nach der Arbeit zusammen essen gingen, hätten sie Ventura nicht ein einziges Mal gefragt, ob sie auch mitkommen wolle.

Alleinerziehenede haben es schwer auf dem Arbeitsmarkt

Ventura hatte in ihrem Leben nicht viel Glück. Mit 18 wird sie schwanger, vom Kindsvater trennt sie sich bald, die Eltern – selbst arm – wenden sich von ihr ab. Wegen gesundheitlicher Probleme in der Schwangerschaft muss sie die Lehre als Systemgastronomin abbrechen. Die erste Tochter braucht wegen ihrer Behinderung Zeit und Geld. Beides hat Amelia Ventura nicht.

Sie nimmt bei der Lehre einen zweiten Anlauf. Ein Jahr nach der Geburt verliebt sie sich erneut. Alles sieht gut aus, doch sie wird wieder schwanger. Auch der zweite Vater will keinen Kontakt. Kurz vor der Abschlussprüfung kommt die zweite Tochter zur Welt. Gesund, aber den Abschluss hat Ventura erneut verpasst.

Sie arbeitet bei McDonald’s, auf Stundenlohnbasis. Der Lohn ist tief, der Job stressig. Für sie, die gesundheitlich angeschlagen ist, keine gute Lösung.

Heute sind die beiden Kinder in der Schule und im Hort, Ventura arbeitet seit letztem Herbst zu 50 Prozent als Betreuungsassistentin in einem städtischen Hort. Es gefällt ihr. Die 2300 Franken Lohn sind fast doppelt so viel wie zuvor. Alles geht ans Sozialamt.

«100 Bewerbungen» hatte sie verschickt, bis sie diesen Job fand. Alleinerziehende, besonders Frauen, das bestätigen Studien, haben es schwer auf dem Arbeitsmarkt. «Man denkt, sie seien unzuverlässig, würden oft ausfallen wegen der Kinder.» Als sie bei einem Vorstellungsgespräch gefragt wurde, ob sie am Wochenende arbeiten könne, und sie verneinte, kam ein paar Tage später die Absage. Beim RAV habe man ihr zu spüren gegeben, man sollte an ihrer Stelle zufrieden sein, wenn man überhaupt Arbeit finde. Ventura wünscht sich mehr Verständnis. «Man kann sich organisieren, auch als Alleinerziehende.»

Wenn die Kinder älter sind, will Ventura ihre Ausbildung abschliessen, das Pensum erhöhen, Schulden abbezahlen und selbständig sein.

Am Schluss des Besuchs sagt sie noch, der Fernseher sei auch ihr zu gross. Er fresse so viel Strom. Dann lacht sie: «Wenn man gewohnt ist, so viel zu sparen, wird man auch ein bisschen geizig.»

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