Herr Lüders, Sie sagen, das Öl-Embargo gegen Russland ist gescheitert. Warum ist das so aus Ihrer Sicht?
Weil dieses Öl-Embargo hinlänglich umgangen wird. Russland hat sein Öl verstärkt in Länder des globalen Südens verkauft, insbesondere in Richtung Indien, aber auch nach Saudi-Arabien und Ägypten. Und dieses russische Öl wird verarbeitet oder auch als Rohöl weiterexportiert in Richtung EU, in Richtung USA. Eben nicht nur mit dem Label «russisches Öl», sondern als «indisches» oder «saudisches».
Sind das nicht einfach Anpassungsschwierigkeiten, bis man auch die Umgehungsgeschäfte berücksichtigt?
Das haben die westlichen Staaten mit dem Preisdeckel ja bereits versucht und sind damit krachend gescheitert. Vor allem auch deswegen, weil sich abgesehen von den westlichen Staaten – den Nato-Staaten mit Ausnahme der Türkei sowie der EU, Südkorea, Japan, Singapur, Australien und Neuseeland – niemand an diesem Boykott Russlands beteiligt. Alleine deswegen ist es völlig illusorisch, irgendwelche Preisdeckel gegenüber Russlands durchsetzen zu wollen. Und Russland wird für seine Produkte immer andere Abnehmer finden. Und diese Einsicht beginnt sich allmählich auch unter hiesigen Entscheidern durchzusetzen.
Und Deutschland zahlt jetzt ein Vielfaches für russisches Öl, das eben über Umwege kommt.
Oder aber – auch das ist eine interessante Ironie – Deutschland bezieht nun mehr Rohöl aus Kasachstan. Und das erreicht Deutschland wie? Über die Druschba-Pipeline, die durch Russland führt. Und dafür werden hohe Durchleitungsgebühren fällig. Das zeigt, dass sich diese Entscheidung der Europäischen Union und der Bundesregierung, Russland umfassend sanktionieren zu wollen, als nicht zielführend erwiesen hat. Russland ist der grösste Energielieferant der Welt, und man kann dieses Land nicht einfach sanktionieren.
Hätten Rohstoffhandels-Drehscheiben wie die Schweiz eine aktivere Rolle spielen können, um das Embargo effektiver zu machen?
Darüber lässt sich natürlich trefflich spekulieren. Aber es bleibt dabei, dass sich nur ein kleiner Teil der Welt an den Sanktionen gegenüber Russland beteiligt. Parallel erleben wir, dass die Welt sich ja gerade neu sortiert, dass neue Machtzentren entstehen. Russland richtet seine Wirtschaft immer mehr in Richtung China aus und auf den globalen Süden. Damit werden die westlichen Sanktionen zunehmend irrelevant für Russland.
Was bedeutet das aus Ihrer Sicht für die EU und insbesondere für Deutschland, das mindestens bis zum Jahr 2035 auf fossile Energien angewiesen ist?
Sie könnten sich nach einem Ende des Ukraine-Krieges sich mit der bitteren Realität konfrontiert sehen, dass der billige Import von russischem Erdöl und Erdgas zugunsten Dritter an ein Ende gekommen ist. Nicht erst seit der Sprengung von Nord Stream richtet Russland seine Exportmärkte auch für Gas massiv in Richtung China und den globalen Süden aus – Europa und vor allem Deutschland werden Probleme haben, diesen Verlust auszugleichen. Die Europäische Union hat eben jene Rohstoffe und Bodenschätze nicht, die sich en masse in Russland und in China befinden. Die Sanktionen waren natürlich emotional und sind auch politisch nachvollziehbar, aber sie waren nicht durchdacht.
Was wäre denn die Alternative gewesen?
Man hätte sich zumindest vorher überlegen müssen, wie lange die Sanktionen zum Beispiel wirken sollen und welches Verhandlungsangebot man an die russische Adresse macht. Wenn ich unbefristete Sanktionen verhänge, dann gibt es für die andere Seite keine Veranlassung, auf diese Sanktionen zu reagieren, solange es Marktalternativen gibt.
Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie keine Alternative zu russischem Öl. Hätte man nicht aber auch beispielsweise länger an den Atomkraftwerken festhalten können?
Das ist eine interessante Frage. Man hätte zumindest die Abhängigkeit verringern können, hätte man die drei letzten in Deutschland in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke nicht zum 31. Dezember des letzten Jahres abgeschaltet. Das wäre natürlich die intelligentere Alternative gewesen. Dadurch, dass Gas als Brückentechnologie nur begrenzt zur Verfügung steht und vor allem aus den USA in Form von Flüssiggas Energie importiert wird, entsteht eine Lücke, die ironischerweise vor allem mit Kohle gefüllt wird. Und ungeachtet aller Versuche der Bundesregierung, die Abhängigkeit von Russland in wirtschaftlicher Hinsicht zu verringern, ist diese nach wie vor sehr hoch. Das kann man auch daran messen, dass die Flüssiggasimporte, die LNG-Importe aus Russland, seit Beginn des Ukraine-Krieges zu mehr als 50 Prozent gestiegen sind, weil der Weltmarkt keine Alternative lässt. Man muss sich immer vor Augen halten, dass ja die Gas- und Ölkontrakte auf weltweiter Basis meist langjährig vergeben werden. Und da kommen Deutschland und die EU erst sehr spät zum Zug. Die grösseren Lieferungen von Gas, Flüssiggas aus Katar oder den USA, beginnen erst 2026, 2027. Bis dahin ist Deutschland gezwungen, auf dem Spotmarkt zu sehr sehr hohen Preisen einzukaufen, überwiegend amerikanisches LNG oder aber auch nordisches.
Plädieren Sie dafür, dass man das Öl-Embargo umgehend aufhebt?
Man sollte die Sanktionen zügig wieder beenden. So empfiehlt es ja auch eine Studie der Rand Corporation (amerikanische Denkfabrik, Anm. d. Red.) vom Januar dieses Jahres. Dort hat man unter dem Titel «Avoiding a long war» darüber nachgedacht, wie mit dieser Krise weiter zu verfahren ist. Und die Autoren empfehlen, die Sanktionen zügig zu beenden, vor allem aus Sorge, dass, wenn sie länger andauern, Russland und China immer enger zusammenfinden und es dann für den Westen keine Möglichkeiten mehr gibt, Russland aus dieser engen Umarmung mit China herauszulösen. Also diese Sanktionen waren und sind nicht zielführend. Man müsste sie beenden oder sollte sie beenden. Aber das bedarf natürlich einer umfassenden Friedenslösung für die Ukraine. Und die steht nicht auf der Agenda der Politik.
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Aber das heisst: Sie meinen alle Sanktionen. Nicht nur das Öl-Embargo.
Ja, das sind ja die wesentlichen Sanktionen. Das andere ist mehr Beiwerk und nicht wirklich von grosser Relevanz.
Na ja, die Finanzsanktionen haben schon Russlands Fähigkeit verringert, den Krieg zu finanzieren. Laut dem Europäischen Rat unterliegen 70 Prozent der Vermögenswerte des russischen Bankensystems Sanktionen, dazu wurden rund 20 Milliarden Euro an Vermögenswerten von sanktionierten Personen und Organisationen eingefroren.
Die Finanzsanktionen sind ja schon recht wichtig. Da haben Sie natürlich vollkommen recht. Aber auch diese haben problematische Nebeneffekte. Dadurch, dass der Westen 333 Milliarden Dollar russischen Vermögens eingefroren hat, hat sich natürlich die Entdollarisierung des Welthandels massiv beschleunigt. Denn sehr viele Länder des globalen Südens handeln nicht mehr oder haben die Absicht, nicht mehr länger in US-Dollar zu handeln, weil man die Abhängigkeit von den USA und den von den USA dominierten Finanzmärkten reduzieren möchte. Das ist ja eigentlich auch die grosse Agenda der Brics-Staaten und ihrer Erweiterungsrunde, die gerade stattgefunden hat.
Gerade bei den Brics-Ländern hat sich aber auch gezeigt, dass sich längst nicht alle von den USA entkoppeln wollen.
Entdollarisierung bedeutet nicht, dass sie von jetzt auf gleich stattfindet. Das wird dauern. Der Dollar wird auch noch die nächsten zwanzig Jahre eine wichtige Rolle spielen, aber eben nicht mehr eine singuläre Rolle bisher. Und das bedeutet natürlich perspektivisch, dass sich die USA auch nicht mehr oder nur noch begrenzt verschulden können. Es ist interessant, sich vor Augen zu führen, dass der bilaterale Handel zwischen China und Russland im Jahr 2018 zu 90 Prozent auf Dollarbasis abgewickelt worden ist. Und mittlerweile liegt dieser Anteil bei null Prozent. Diese beiden Staaten haben die Entdollarisierung im bilateralen Handel bereits beendet. Und wenn man sich anschaut, dass Länder wie Indien und China untereinander, sogar südamerikanische Länder, in anderen Währungen als dem Dollar handeln wollen, dann ist das schon ein klares Signal. Aber bis das richtig greift, wird es sicherlich noch einige Zeit dauern.
Dennoch: Auch Sie sagen, dass es erst Frieden braucht, bis man die Sanktionen wieder aufheben sollte.
Darauf wird es hinauslaufen, denn die westlichen Staaten werden Russland natürlich nicht entgegenkommen, solange der Krieg andauert und solange der Krieg nicht einen Verlauf genommen hat, wie er in westlichen Hauptstädten erwünscht ist. Man wird am Ende eine Lösung finden müssen, auch wenn die Europäische Union so ziemlich der einzige Teil der Welt ist, der bislang noch keine Friedenslösung für die Ukraine vorgelegt hat. Im Gegensatz zur Afrikanischen Union, im Gegensatz zu China, im Gegensatz zu Indien, im Gegensatz zur Türkei. Italien hat es ebenfalls versucht im vorigen Jahr, Israel. Das ist alles gescheitert, weil es offenbar auf beiden Seiten des Vorhangs mächtige Akteure gibt, wenn ich so sagen darf, die diesen Krieg erst einmal fortsetzen wollen.
Das klingt schon ein bisschen verschwörungstheoretisch. Viele der «Friedenspläne» berücksichtigen nicht die völkerrechtliche Situation und fordern zum Beispiel keinen Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine. Und Russland scheint nicht verhandlungsbereit zu sein. Bei der Uno-Generalversammlung diese Woche in New York störte es den russischen Botschafter sogar, dass Selenski überhaupt reden durfte.
Ich bleibe dabei, die entscheidenden Akteure sitzen in Washington und Moskau. Und die werden am Ende eine Lösung finden – auf Kosten der Ukrainer. Präsident Biden hat klar gesagt, dass es nach seiner Auffassung ein Ende der Herrschaft Putins geben müsse, bevor es einen Frieden geben könne. Diese Haltung ist weit verbreitet. Innerhalb der USA gibt es allerdings mindestens zwei Lager mit Blick auf den Krieg in der Ukraine. Die eine Seite sagt: Wir müssen den Krieg oder wir sollten den Krieg nicht beenden, bevor Russland nicht so geschwächt ist, dass Russland keine Bedrohung mehr sein kann. Und das andere Lager sagt: Wir sollten den Krieg jetzt zu Ende bringen, denn unser eigentlicher Gegner ist China, und wir sollten unsere Ressourcen nicht zu sehr in der Ukraine verbinden. In dieser Rand-Studie ist auch sehr klar die Rede davon, dass man die Sanktionen beenden sollte, weil man auch nicht wollen kann, dass sich Russland am Ende unwiderruflich auf der Seite Chinas wiederfindet.
Ohne die chinesische Unterstützung könnte Russland diesen Krieg schon längst nicht mehr führen. Müssten sich dann Ihrer Argumentation zufolge nicht eher Peking und Washington einigen?
China wird sicherlich auch eine Rolle spielen, aber die chinesische Position ist ja eigentlich ganz geschickt. Es gibt nach allem, was wir wissen, keine Waffenlieferungen Chinas an Russland. Die Chinesen haben einen Friedensplan vorgelegt, der von westlicher Seite abgelehnt worden ist. Und ich glaube auch nicht, dass die Amerikaner bereit wären, gross Rücksicht zu nehmen auf chinesische Interessen. Mich besorgt aber vor allem die Abwesenheit erkennbarer Diplomatie zwischen den verfeindeten Seiten USA und Russland. Man muss, glaube ich, klar und deutlich sagen, dass der Krieg in der Ukraine mittlerweile ein Stellvertreterkrieg ist zwischen zwei Grossmächten, die beide ihren Machtanspruch in der Region Eurasiens mit militärischen Mitteln durchzusetzen versuchen. Diese Konfliktlinie in der Ukraine ist die eine grosse Konfliktlinie in der Weltpolitik, und die andere ist die kommende, die künftige – der Konflikt rund um Taiwan.
Nun aber sind wir noch in der Situation, dass wir einen heissen Krieg haben, das Öl-Embargo besteht und der Winter kommt. Gibt es etwas, was Europa und auch Länder wie die Schweiz machen könnten, um uns besser durch die Energiekrise zu bringen?
Der Schweiz kann man nur raten, an ihrer neutralen Position, die sie seit Jahrhunderten erfolgreich verfolgt, festzuhalten und sich so wenig wie möglich in eine einseitig auf die Interessen der USA ausgerichtete westliche Politik einbinden zu lassen.
Den Sanktionen hat sie sich allerdings bereits angeschlossen.
Europa muss sich aber neu finden, eigene Interessen deutlich benennen und militärisch und wirtschaftlich in der Lage sein, zwischen den USA und China eine selbstbewusste Haltung einzunehmen. Hier kann die Schweiz helfen. Und fast alle Staaten der westlichen Welt haben sich auch Hintertüren offengelassen für eine Wiederannäherung an Russland. Das einzige Land, das dieses erkennbar nicht tut, ist Deutschland.
Welche «Hintertüren» meinen Sie?
Zum Beispiel, dass Japan Russland zwar boykottiert, aber russisches Erdgas und Erdöl von diesem Boykott ausgenommen hat. Und Österreich importiert nach wie vor ungebrochen Gas aus Russland, ebenso beispielsweise Ungarn und teilweise immer noch Italien und Griechenland. Es ist ja nicht so, dass dieser Export aus Russland zum Erliegen gekommen wäre. Wenn die Staatskasse zu klamm wird, werden sich vor allem die ärmeren Länder Europas sehr schnell wieder Russland zuwenden.
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