Piloten, Bauarbeiter, Chauffeure
Wirtschaft befürchtet Streikwelle in der Schweiz – mit Konsequenzen

Gleich in mehreren Branchen drohen die Gewerkschaften derzeit mit dem Streik. Und das, obwohl die Schweiz bislang als streik-freies Land galt! Unter vermehrten Streiks könnte die Standortattraktivität leiden, befürchten Kritiker.
Publiziert: 19.10.2022 um 00:16 Uhr
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Aktualisiert: 19.10.2022 um 06:52 Uhr
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Wirtschaftsvertreter befürchten in der Schweiz eine zunehmende Streiklust.
Foto: Keystone
Martin Schmidt

In der Schweiz herrscht Friede, Freude, Eierkuchen! Zumindest, wenn es um Streiks geht. Aus Protest die Arbeit niederzulegen, ist bei den Arbeitskräften hierzulande einigermassen verpönt. Auf 1000 Beschäftigte kommt in der Schweiz gerade mal ein ausgefallener Arbeitstag pro Jahr. Ganz anders in Frankreich. Dort gehören Streiks praktisch zum guten Ton. Auf 1000 Beschäftigte kommen so 93 ausgefallene Arbeitstage pro Jahr.

Doch inzwischen nehmen auch in der Schweiz die Zahl der Streiks und Streikandrohungen zu. Die Swiss-Piloten drohen damit, Ende Oktober am Boden zu bleiben. Über 20'000 Büezer stimmten jüngst für einen landesweiten Stillstand auf den Baustellen. Und in Genf streikten letzte Woche die Angestellten der Verkehrsbetriebe TPG und diese Woche die Taxifahrer. Eine Momentaufnahme, die gemäss Christian Koller (51) aber einem Trend entspricht. «Die Gewerkschaften scheuen heute weniger vor Streiks zurück, als dies im späten 20. Jahrhundert der Fall war», sagt der Historiker und Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs in Zürich.

Fachkräftemangel fördert Streiklust

Während früher vor allem die Belegschaft von grossen Konzernen oder in ganzen Branchen wie auf dem Bau streikte, sind es heute aber auch öfter Angestellte von kleineren Betrieben. Es wird in Geschäften gestreikt und bei Lieferfirmen.

Das wirtschaftliche Umfeld könnte die zunehmende Streiklust weiter begünstigen. In zahlreichen Branchen suchen Firmen händeringend nach Arbeitskräften. «Der Fachkräftemangel bringt die Arbeiterinnen und Arbeiter in eine stärkere Verhandlungsposition», sagt Koller.

Schweizer Arbeitsfrieden ist Trumpf

Die bislang tiefe Streikzahl in der Schweiz gilt als einer der Gründe, warum die Schweiz für internationale Investoren und Firmen so attraktiv ist. «Wenige Streiks und motivierte Mitarbeitende bedeuten Planungssicherheit. Der Arbeitsfrieden ist bis heute ein wichtiger Wert und auch ein Trumpf im internationalen Wettbewerb», sagt Wirtschaftshistoriker Bernhard Ruetz (54) dazu.

Doch nun scheint der Ton bei Verhandlungen zumindest in gewissen Branchen rauer zu werden. Auf der einen Seite beklagen sich die Arbeitgeber über unersättliche Lohnforderungen. Würde die Swiss auf die Forderungen der Pilotengewerkschaft Aeropers eingehen, würden ihre Personalkosten für die Piloten von 1 Milliarde auf 1,2 Milliarden hochgehen, wie die Airline sagt.

Streik als ultima ratio

Die Gewerkschaften bemängeln ihrerseits in immer mehr Branchen Angriffe auf die Gesamtarbeitsverträge (GAV). «Bis jetzt konnten wir diese Angriffe abwehren und die GAV-Abdeckung in der Schweiz sogar verbessern – im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern», sagt Unia-Präsidentin Vania Alleva (52). Gilt ein GAV, ist streiken unzulässig.

Alleva führt die härtere Gangart der Gewerkschaften auf «massive Angriffe auf die Rechte der Arbeitnehmenden zurück». Die Arbeitgeber würden Arbeitsgesetze abbauen und Arbeitsverhältnisse flexibilisieren wollen. Streiks seien das letzte, aber auch das wirksamste Mittel für die Arbeiterschaft. Gewerkschaften würden niemals leichtfertig zur Streikdrohung greifen, da jeder Streik für die Streikenden mit einer hohen Belastung und grossen Risiken verbunden sei.

«Radikalisierung gewisser Gewerkschaften»

Bei der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse macht man die Schuldigen hingegen aufseiten der Gewerkschaften aus. «Wir sehen eine ideologische Radikalisierung gewisser Gewerkschaften», sagt Peter Grünenfelder (55). Der Direktor von Avenir Suisse sieht darin eine gefährliche Entwicklung: Das Problem sei, dass die Gewerkschaften massiv Mitglieder verlieren und so immer weniger Arbeitnehmer vertreten. Waren 1960 noch 29 Prozent der Erwerbsbevölkerung in einer Gewerkschaft, lag dieser Anteil 2020 gerade noch bei 13 Prozent. «Weil die Gewerkschaften immer mehr an Bedeutung verlieren, treten sie zunehmend radikaler auf», so Grünenfelder.

Der Avenir-Suisse-Direktor befürchtet, dass der Wirtschaftsstandort Schweiz an Attraktivität verliert. «Wir haben schon heute aufgrund des Entscheidungsstaus der Bundespolitik Probleme, unsere Attraktivität aufrechtzuerhalten. Nimmt die Zahl der Streiks zu, büssen wir hier weiter ein.»

Franzosen streiken 48-mal mehr

Der Historiker Bernhard Degen (70) von der Universität Basel hingegen beruhigt: «Die historischen Streikstatistiken sprechen dagegen, dass ein Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Streikzahl besteht.» Will heissen: Selbst wo viel gestreikt wird, kann die Wirtschaft florieren – und ist damit für Investoren und Firmen aus dem Ausland weiterhin attraktiv.

Auch wenn die Streiks in der Schweiz zunehmen, fehlt ihr auf die meisten Länder noch ein gutes Stück auf dem Treppchen. Pro Kopf gerechnet kommen die USA auf 9-mal mehr Streiktage. In Deutschland sind es 18-mal mehr, in Frankreich sogar 48-mal mehr! So ganz hat die Schweiz ihr Musterschüler-Image noch nicht abgestreift.

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