Der für Ende Oktober angedrohte Swiss-Pilotenstreik sorgt vielerorts für Kopfschütteln. Schliesslich verdienen Piloten mit langjähriger Erfahrung über 200'000 Franken im Jahr. Es geht in den Verhandlungen um einen neuen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) denn auch nicht primär um den Lohn. Sondern um die Planbarkeit. Der Arbeitsplan wird jeweils am 25. des Monats verschickt. Fixe Freitage gibt es nicht, auch nicht für jene, die in Teilzeit arbeiten. An Weihnachten, Ostern oder in den Sommerferien freizuhaben, können Piloten vergessen – schliesslich wollen ausgerechnet dann am meisten Leute in die Ferien fliegen.
«Es ist purer Neid, wenn man den Piloten das Anrecht auf einen Streik absprechen will», kritisiert der Branchenkenner und Aviatik-Journalist Hans Ruedi Vogel (79). Er ist überzeugt: Die Arbeitsbedingungen für Pilotinnen und Piloten hätten sich in den letzten Jahren massiv verschlechtert. «Die Flugstunden werden bis zum Gehtnichtmehr ausgereizt. Bei Langstreckenflügen wurde die Aufenthaltszeit in der Destination gekürzt. Alles ist auf Effizienz getrimmt.»
Depressionen im Cockpit
Zwischen dem Verlassen des Cockpits und dem nächsten Dienst liegen im Extremfall nur zehn Stunden. Arbeitstage sind bis zu 13 Stunden lang – wenn Verspätungen oder schlechtes Wetter hinzukommen, werden es schnell einmal 14 oder 15 Stunden.
«20 Prozent der Piloten haben deutliche Depressions- oder Angstsymptome», warnt Marion Venus (49). Sie ist Psychologin, forscht unter anderem zu Pilotenstress. «Ich kenne viele Piloten, auch bei Swiss, die auf Teilzeitarbeit umsteigen, weil sie die Arbeitsbelastung psychisch und physisch nicht mehr ausgehalten haben.»
Die miserablen Arbeitsbedingungen in der Luftfahrt betreffen neben den Piloten auch das Kabinenpersonal. «Wir stehen solidarisch an der Seite unserer Kolleginnen und Kollegen im Cockpit», sagt Sandrine Nikolic-Fuss (53), Gewerkschaftschefin des Kabinenpersonals (Kapers). Dass die Piloten, die etwa dreimal so viel verdienen wie Flight Attendants, in den Streik ziehen wollen, will sie nicht kommentieren. «Die Situation ist nicht vergleichbar. Aber natürlich haben wir viel zu tiefe Löhne. Wir sind an einem Tiefpunkt in der Schweizer Luftfahrtgeschichte angelangt.»
Wenn Ärzte streiken, sterben Menschen
Von belastender Schichtarbeit ist längst nicht nur die Luftfahrt betroffen: Jeder zweite Arzt arbeitet im Schnitt mehr als die zulässigen 50 Stunden pro Woche. Dazu kommen 24- oder gar 48-Stunden-Schichten oder Nacht-Pikettdienste, auf die normale Arbeitstage folgen. Wer Kinder hat, sieht diese oft nur an arbeitsfreien Tagen – oder in Wochen mit Nachtschicht.
Ans Streiken ist in der Gesundheitsbranche jedoch nicht zu denken. Denn dann sterben Menschen. Den Ärzten und Pflegefachkräften bleibt als äusserste Massnahme nur die Kündigung – und dazu greifen sie immer öfters. An den Übriggebliebenen bleibt umso mehr Arbeit hängen. «Ich kann bei der Patientenbetreuung nicht annähernd alles Nötige erledigen», sagt eine frustrierte Pflegefachkraft zu Blick.
Chauffeure stehen hinter den Piloten
Wie hart Jobs in Schichtbetrieben sind, zeigt auch ein Blick auf die ÖV-Branche. In Genf haben die Angestellten der Verkehrsbetriebe TPG erst letzte Woche gestreikt. Auch andernorts fahre das Personal auf dem Zahnfleisch, sagt Susanne Oehler (49), Gewerkschaftssekretärin des Verkehrspersonals SEV. «Die Solidarität beim Fahrpersonal für die Streik-Androhung der Swiss-Piloten ist feststellbar.» Ein eigener Streik sei derzeit hingegen kein Thema.
Die Gewerkschaft Syndicom hat jüngst Postauto-Chauffeure zu Vereinbarkeit von Beruf und Familie befragt. «Das Resultat fiel schlecht aus», bilanziert Syndicom-Sprecher Dominik Fitze. Neben den vielen Wochenenddiensten werden vor allem die langen Arbeitstage bemängelt. Chauffeurinnen und Chauffeure sind inklusive Pausen bis zu 13 Stunden ausser Haus.
Dass die Arbeitspläne der Swiss-Piloten erst am 25. des Monats feststehen, ist tatsächlich unüblich. Doch selbst wer in einer anderen Branche arbeitet und seinen Plan früher erhält, kann sich darauf selten verlassen. Kurzfristige Änderungen im Dienstplan seien an der Tagesordnung, heisst es sowohl aus dem Gesundheitswesen als auch aus der ÖV-Branche.
Jahresarbeitspläne in der Industrie
Doch es gibt auch Schichtarbeiterinnen und Schichtarbeiter, von denen kaum Kritik an den Arbeitsbedingungen zu vernehmen ist. In der Industrie sieht die Planbarkeit beispielsweise deutlich besser aus. So erhalten die Angestellten beim Chemie- und Pharmakonzern Lonza einen Jahresarbeitsplan.
Die Polizei lobt derweil, dass in der Regel pünktlich ausgestempelt werden könne – sofern die Einsatzkräfte nicht kurz vor Dienstende nochmals unvorhergesehen ausrücken müssen. Beim Verband Schweizerischer Polizei-Beamter VSPB hält man denn auch wenig von Streiks. «Wir befürworten grundsätzlich, Konflikte durch Verhandlungen zu regeln oder Probleme mittels Gesprächen zu lösen.»
Darauf hoffen auch Swiss und die Pilotengewerkschaft Aeropers: Am Wochenende steht die vorerst letzte Verhandlungsrunde zwischen Swiss-CEO Dieter Vranckx (49) und Aeropers-Präsident Clemens Kopetz auf dem Programm. Wird keine Einigung gefunden, kommt es wohl am 29. und 30. Oktober zum Streik.