Auf einen Blick
Gerade einmal fünf Tage Zeit erhält Antoinette Beutler, um sich vorzubereiten. Es ist der Freitag vor Pfingsten. Per Mail erfährt sie: Bereits am darauffolgenden Mittwoch soll sie bei der Medas Lachen SZ AG im Kanton Schwyz vorstellig werden, um sich von einer Internistin untersuchen zu lassen. Eine Untersuchung, die entscheidet, ob sie künftig eine volle IV-Rente bekommen wird oder weiterhin mit einer Viertelrente auskommen muss. Antoinette Beutler, die eigentlich anders heisst, leidet unter einer Angststörung, Depressionen und chronischen Schmerzen.
Die Vorstellung, sich an einen ihr unbekannten Ort begeben und sich von einer fremden Person begutachten zu lassen, bereitet ihr schlaflose Nächte. Sie geht trotzdem hin und lässt die Untersuchung über sich ergehen.
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Nach dem ersten Termin in Lachen meldet sich die Gutachterstelle nicht mehr. «Diese Nummer ist ungültig», hört Beutler, wenn sie anruft, um die weiteren Termine zu erfahren. Ihre Mails bleiben unbeantwortet. Erst Anfang Juli, rund sieben Wochen später, folgt das Aufgebot für die nächsten zwei Untersuchungen – wiederum mit bloss fünf Tagen Vorlauf. Es liegt dem Beobachter vor. Bei der Sitzung in Lachen wird Beutler mit Erklärungen für das lange Schweigen eingedeckt: IT-Probleme sollen an der Funkstille schuld sein, zudem Ferienabwesenheiten und eine hohe Auslastung.
Verantwortliche auf Tauchstation
Mitte September erhält die Patientin schliesslich von ihrer IV-Stelle die Hiobsbotschaft: Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) habe der Medas Lachen SZ AG Ende August fristlos gekündigt, der Auftrag für ihre polydisziplinäre Untersuchung müsse neu vergeben werden.
Antoinette Beutler steckt zu diesem Zeitpunkt bereits eineinhalb Jahre im IV-Revisionsverfahren. Die Kündigung bedeutet für sie, dass sie sich vermutlich noch einmal allen Untersuchungen unterziehen muss. Die 36-Jährige ist nicht die einzige Patientin, die vor einem Scherbenhaufen steht.
Das BSV erklärt auf Anfrage, die Medas Lachen habe 81 polydisziplinäre Gutachten angenommen, von denen habe sie gerade einmal fünf abgeschlossen.
Die Verantwortlichen der Medas Lachen SZ AG sind seither auf Tauchstation. Der bisherige einzige Verwaltungsrat der Firma, ein 24-jähriger Student, erklärt am Telefon, «das Team» werde zu schriftlichen Fragen Stellung nehmen.
Ein ausführlicher Fragenkatalog des Beobachters bleibt jedoch unbeantwortet. Inzwischen ist der Student als Verwaltungsrat zurückgetreten. Sein Nachfolger, der erst seit November im Amt ist, reagiert nicht auf mehrfache Kontaktversuche.
Ein Arzt, der für die Medas Lachen als Gutachter tätig war, berichtet Erstaunliches: Sein Bewerbungsgespräch habe er mit einem Mann geführt, der im Hauptberuf Finanzberater einer Versicherungsgesellschaft ist: «So etwas habe ich noch nie erlebt.» Wie mindestens eine weitere Ärztin wartet er bis heute auf ausstehende Honorare für Gutachten.
«Aufwände unterschätzt»
Da stellt sich die Frage, warum das Bundesamt einer Gutachterstelle eine Bewilligung erteilt, deren Verantwortliche nicht die geringste Erfahrung in der Führung einer Gutachterstelle haben. Die Medas Lachen SZ AG habe «die formellen Voraussetzungen erfüllt», sagt dazu BSV-Sprecher Harald Sohns. Dies habe man aufgrund eines schriftlichen Verfahrens und eines Besuchs bei der Gutachterstelle verifiziert.
Bereits im Mai 2024, also ein halbes Jahr nach der Erteilung der Betriebsbewilligung, habe man jedoch erste Hinweise auf «erhebliche organisatorische Probleme» erhalten: «Medas Lachen hatte zu viele Gutachtenaufträge angenommen und die damit verbundenen administrativen Abläufe und Aufwände unterschätzt.» Als geforderte Massnahmen nicht fruchteten, habe man der Firma fristlos gekündigt.
Antoinette Beutler wartet derweil immer noch auf den Entscheid, wie es für sie weitergeht. Das BSV wünschte ihr «viel Kraft und Mut, diese nicht einfachen Lebensumstände zu meistern».