Das Altpapierbündeli draussen auf der Strasse ist momentan Gold wert. Denn Papier ist knapp und die Nachfrage seit Monaten ungebrochen. Bis zu dreimal mehr als zu Beginn des Jahres bezahlen Produzenten für den Rohstoff. Der Grund: Der Papierkreislauf ist aus dem Gleichgewicht geraten.
Denn die Bevölkerung hat ihr Kaufverhalten während Corona massiv verändert. Europaweite Lockdowns haben zu einem Online-Shopping- und Päckli-Boom geführt. Der Versand der Online-Ware schluckt Unmengen an Kartonschachteln. Die grössten europäischen Papierfabriken kaufen Rohstoffe massenweise, um der hohen Nachfrage nach Karton gerecht zu werden.
Altpapiermarkt wie ausgetrocknet
Die Konsequenz: Es landet immer mehr Altpapier in der Kartonproduktion. Das Nachsehen haben die Papierhersteller. Ihnen fehlt das Altpapier. Denn aus Papier lässt sich zwar Karton machen – umgekehrt aber nicht.
«So ist das Papier für den grafischen Altpapierkreislauf verloren», sagt Alain Probst (55), Geschäftsführer des grössten Altpapierentsorgers der Schweiz. «Eine solch angespannte Situation ist in den letzten 20 bis 30 Jahren noch nie da gewesen.»
Probst sitzt auch in der Geschäftsleitung der luzernischen Perlen Papier – der letzten Schweizer Fabrik für grafische Papiere – und ist dort für die Zufuhr von Rohstoffen zuständig. Auch in dieser Funktion bereitet ihm die Altpapierknappheit Sorgen. Die Produktion wurde zurückgefahren. Ein einwöchiger Produktionsstopp konnte nur dank zusätzlicher Kontingente abgewendet werden.
Im Ausland gibts die besseren Preise
Was die Papierknappheit weiter verschärft: Zu Beginn des Jahres fiel 40 Prozent weniger Altpapier an – weil weniger Werbemittel gedruckt wurden und der Umfang der Zeitungen abgenommen hat. Bis heute konnte dieser Ausfall nicht vollständig aufgeholt werden.
Trotzdem exportiert die Schweiz noch immer Altpapier ins Ausland. «Die Rohstoffe werden kreuz und quer über den Globus geschoben – die Nachfrage nach Altpapier ist weltweit hoch!», sagt Beat Kneubühler (49), Geschäftsführer des Vereins Recycling Papier und Karton. Da haben die kleinen Schweizer Produzenten schlechte Karten.
Die Schweizer Handelsbilanz zeigt: Schweizer Papierhersteller haben im vergangenen Jahr massiv weniger Altpapier aus dem Ausland importiert. Die Exportzahlen sind dagegen konstant geblieben. Liesse sich die Altpapierknappheit nicht einfach mit weniger Exporten lösen? Kneubühler sagt: «Viele Schweizer Wertstoffhändler wollen ihre Handelsbeziehungen aufrechterhalten.» Blick weiss: Im Ausland können sie oft zu besseren Konditionen verkaufen.
«Ein Opportunistenmarkt»
Die Papierknappheit spüren selbst die Abnehmer von Zeitungspapier. Das «Migros-Magazin» – nach der «Coop Zeitung» die Zeitschrift mit der zweitgrössten Auflage der Schweiz – kündigte kürzlich an, den Umfang seiner Ausgaben während mehreren Wochen zu reduzieren.
Des einen Leid, des andern Freud. In Weinfelden TG und Niedergösgen SO verwertet die Model Group jährlich fast eine halbe Million Tonnen Altpapier und -karton wieder. Das Unternehmen zahlt heute pro Tonne Altkarton 140 Franken – fünfmal mehr als bei Ausbruch der Pandemie! CEO Daniel Model (60) weiss: «Der Altpapiermarkt ist ein Opportunistenmarkt.» Ausländische Papierfabriken würden Altpapier aus der Schweiz zu «sehr hohen Preisen» kaufen.
Das Kreuz mit dem Kreislauf
Weil sich aber der Preis für seine Endprodukte innert zehn Monaten verdoppelt hat, steht Models Unternehmen im Vergleich gut da. Der europaweite Trend zum Einkaufen im Internet hat seinem Geschäftsmodell einen Schub verliehen. Daniel Model sagt: «Wir konnten die Umsätze während der Pandemie sogar steigern.»
Eine Entspannung – da ist sich die Branche einig – gibts nur, sobald der Papierkreislauf wieder geschlossen ist. In vielen Regionen Europas hat die Pandemie die Sammelsysteme bis heute unterbrochen oder verlangsamt. «So landet immer noch zu viel Altpapier in der Verbrennung», sagt Daniel Model.