ÖBB-Chef Andreas Matthä im grossen SonntagsBlick-Interview
«Ohne die Schweiz wären wir die Nummer 1»

Der Österreicher Andreas Matthä hat dem Nachtzug in Europa ein überraschendes Revival beschert. Der Bahn-Visionär spricht mit uns über Zeitvorteile auf der Schiene, Getreidetransporte aus der Ukraine – und die Frage, ob wir in den Zügen bald frieren müssen.
Publiziert: 18.09.2022 um 12:15 Uhr
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Aktualisiert: 19.09.2022 um 21:08 Uhr
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Andreas Matthä ist seit vier Jahrzehnten in verschiedenen Positionen für die ÖBB tätig, seit Mai 2016 als CEO.
Christian Dorer und Fabienne Kinzelmann (Interview) und Regina Hügli (Fotos)

Montagmorgen, 8.58 Uhr am Wiener Hauptbahnhof. Der Nachtzug von Zürich fährt mit 40 Minuten Verspätung ein. «Wir haben zwar Bauarbeiten am Arlberg und östlich von Linz, die sollten sich aber nicht auswirken», sagt Andreas Matthä später stirnrunzelnd. SonntagsBlick trifft den Vorsitzenden der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) in seinem Büro im 22. Stock, mit Aussicht auf die Schienen. Er ärgere sich besonders, gesteht er, wenn die Ansagen im Zug nicht klar seien. «Das Wichtigste ist, dass man den Kundinnen und Kundinnen sagt, wie sehr man verspätet ist und ob sie den Anschluss schaffen.»

Herr Matthä, wann sind Sie das letzte Mal geflogen?
Andreas Matthä:(Er überlegt. Und überlegt.)

Ist das wirklich so lange her, dass Sie sich nicht mehr erinnern können?
In diesem Jahr bin ich noch nicht geflogen. Wenn es geht, nehme ich lieber den Zug.

Das müssen Sie als ÖBB-Chef natürlich sagen.
Klar, das ist unser Produkt. Aber ich fliege wirklich nicht gern. Ich finde es angenehm, dass ich im Nachtzug schlafen kann. Untertags ist es geschenkte Zeit, in der ich arbeiten und mich mit Kollegen austauschen kann. Und Fliegen ist ja nicht mehr so lustig wie früher.

Fast alle Bahngesellschaften haben die Nachtzüge vor rund 20 Jahren zusammengestrichen. Warum Sie nicht?
Wir wollten diese Nische nicht einfach so mir nichts, dir nichts aufgeben. Als die Deutsche Bahn damit aufhören wollte, haben wir berechnet, dass es bei 40 Prozent der Verbindungen Synergiemöglichkeiten für uns gibt – etwa, indem wir mit den Nachtzügen teilweise schon den morgendlichen Pendlerverkehr mit bedienen. Deshalb haben wir das Geschäft von den Deutschen übernommen. Das war vor der grünen Welle, wir wurden belächelt. Der Start war nicht berauschend, aber durch die Flugscham ist die Nachfrage explodiert. Und in der Pandemie waren Schlaf- und Liegewagen-Abteile neben dem eigenen Auto die sicherste Art des Reisens.

Was macht Sie so sicher, dass der Hype nicht wieder abebbt?
Diese neue Form des Reisens bleibt. Man muss nicht dieses Prozedere wie am Flughafen über sich ergehen lassen – mit Einchecken, Sicherheitskontrolle und Warten aufs Gepäck. Man kommt direkt im Stadtzentrum an. Und man spart sich eine Hotelnacht.

Persönlich: Andreas Matthä

Der Ingenieur Andreas Matthä (59) kennt die Österreichischen Bundesbahnen von der Pike auf: Seit vier Jahrzehnten ist er in verschiedenen Positionen für die ÖBB tätig, seit Mai 2016 als CEO. Er machte den Konzern zum Nachtzug-Marktführer in Europa. Kanzler werden wie sein Vorgänger Christian Kern (56, SPÖ) will er nicht – sondern lieber den Bahnverkehr weiter nach vorne bringen, verrät er am Rand des Interviews. Dafür steht er auch dem Interessenverband Gemeinschaft der Europäischen Bahnen (GEB) vor.

Der Ingenieur Andreas Matthä (59) kennt die Österreichischen Bundesbahnen von der Pike auf: Seit vier Jahrzehnten ist er in verschiedenen Positionen für die ÖBB tätig, seit Mai 2016 als CEO. Er machte den Konzern zum Nachtzug-Marktführer in Europa. Kanzler werden wie sein Vorgänger Christian Kern (56, SPÖ) will er nicht – sondern lieber den Bahnverkehr weiter nach vorne bringen, verrät er am Rand des Interviews. Dafür steht er auch dem Interessenverband Gemeinschaft der Europäischen Bahnen (GEB) vor.

Unwirtschaftlich und wenig ökologisch, sagen Kritiker: In einem Schlafwagen kommen nur 24 Passagiere unter, tagsüber stehen die Züge rum.
Deutlich ökologischer als Fliegen sind Nachtzüge allemal. Und auch wirtschaftlich: Wir schreiben jedenfalls schwarze Zahlen.

Ohne Subventionen?
Auf gewissen Strecken ersetzen wir mit den angehängten Sitzwagen den ersten Pendlerzug und bekommen dafür gemeinwirtschaftliche Leistungen. Nachtzüge sind nicht das Bombengeschäft, trotzdem sollten wir das Angebot beibehalten: Der gesellschaftliche Wandel ist stark genug. Der Nachtzug alleine wird den Flugverkehr nicht ersetzen. Dafür brauchts Hochgeschwindigkeitsstrecken wie etwa Wien–Prag–Berlin. Diese Strecke wollen wir in vier Stunden schaffen. (Anm. d. Red. Für die Verbindung benötigt es einen Tunnel durchs Erzgebirge, die Verbindung soll Mitte der 2030er-Jahre in Betrieb gehen.)

Sie haben 33 neue Nightjets bestellt, ab dem nächsten Jahr werden sie ausgeliefert. Was erwartet die Fahrgäste?
Die neuen Züge haben ein völlig neues Qualitätsniveau, vor allem die Liegewagen. Das ist dann eine Art Kapsel, man kann sich sozusagen komplett abschliessen. Der heutige Standard ist ja mehr Jugendherberge. Die alten Liegewagen werden wir alle ersetzen.

Und die Schlafwagen?
Da werden wir auch die alten weiter verwenden, weil man für die Züge überall nationale Genehmigungen braucht und das relativ mühsam und teuer ist. Die Schlafwagen haben gültige internationale Genehmigungen.

Wieso ist der grenzüberschreitende Bahnverkehr so kompliziert?
Europas Bahnen leiden unter der Kleinstaaterei: viele nationale Normen und Einflüsse. Wir kämpfen dafür, dass es so einfach wird wie mit dem Bus, der einfach über jede Grenze fährt. Die Trassenmaut sollte für den Nachtzug ausserdem niedriger sein als für den Tagzug, weil die Qualitätsanforderungen niedriger sind. Ist ja nicht schlimm, wenn der mal ein paar Stunden rumsteht – wir machen eh absichtlich Pausen. Die Fahrt unseres Nachtzugs von Wien nach Venedig etwa strecken wir so, dass er erst um 8 Uhr ankommt. Niemand will bereits um 5 Uhr in Venedig sein.

Die internationale Zusammenarbeit hapert. Eine Verbindung nachzuschauen ist oft eher was für Bahnfans – und der Preisunterschied kann je nach Buchungssystem mehr als hundert Franken ausmachen. Vergleichsplattformen wie Skyscanner beim Fliegen fehlen.
Da haben Sie recht, und das ärgert mich. Von einem Land ins andere geht. Aber ab drei, vier Ländern wirds schwierig. Das ist ein Stück weit leider der Liberalisierung quer durch die Europäische Union geschuldet. Die länderspezifischen Bahngesellschaften haben sich abgeschottet.

Interrail beweist, dass es geht.
Ja, weil man da kein festes Ticket buchen muss. Die Hürde sind die nationalen Tarifsysteme. In Österreich und der Schweiz etwa kann man mit einem Ticket sowohl in den Nah-, als auch in den Fernverkehr einsteigen. Das geht in vielen Ländern nicht. Wir müssen uns davon lösen, die perfekte Lösung zu finden, um von Hintertupfingen nach Malmö zu gelangen. Es genügt, wenn man einfacher zwischen den grossen Fernverkehrs-Bahnhöfen buchen kann.

Was braucht es dafür?
Meine europäischen Kolleginnen und Kollegen müssen einsehen, dass uns die Marktliberalisierung nicht gutgetan hat. Wechselweise nehmen wir uns vielleicht künftig Passagiere weg, weil wir uns konkurrieren, und verlieren Marktanteile. Aber in der Summe besteht die Chance, dass mehr Menschen Bahn fahren.

Die ÖBB und die SBB arbeiten eng zusammen. Gibt es irgendwas, bei dem Sie neidisch auf die Schweizer gucken?
(Lacht) Natürlich! Die Schweiz ist das Walhalla der Eisenbahnen! Pünktlichkeit und Kundenzufriedenheit sind herausragend. Ich sage gern: Zum Glück ist die Schweiz nicht in der EU, sonst lägen wir da nicht ganz vorne. In meiner Wahrnehmung lieben die Schweizerinnen und Schweizer die Bahn. Ich habe viel Respekt dafür, mit welcher Ernsthaftigkeit die Bevölkerung hinter dem Schienenverkehr steht. Im europäischen Vergleich ist die Schweiz klar Nummer 1.

Keine Chance, zu überholen?
Bei der Pünktlichkeit halte ich den Wettbewerb hoch.

Europa muss Strom sparen. Müssen Sie im Winter die Heizungen runterdrehen und den Fahrplan ausdünnen?
Letzteres nur, wenn es Massnahmen gibt, welche die Industrieproduktion verändern. Unser Energie-Sparprogramm sieht unter anderem etwa vor, dass wir die Bahnhöfe nicht mehr die ganze Nacht beleuchten und mit den Temperaturen ein Stück weit runtergehen. Gleichzeitig arbeiten wir intensiv, die Eigenproduktion zu erhöhen. Die SBB erzeugen 100 Prozent ihres Stroms selbst, das finde ich wirklich cool. Wir werden wohl nie ganz energieautark werden. Aktuell produzieren wir etwa 35 Prozent selbst – abhängig davon, wie viel Wasser da ist. 25 Prozent decken wir über sogenannte Partner-Kraftwerke. Den Rest müssen wir einkaufen.

Werden die Tickets deshalb teurer?
Wir werden zum Jahresende eine leichte Preiserhöhung vornehmen, vor allem stärkere Spitzenpreise in der ersten und zweiten Klasse. Generell werden wir uns aber sehr klar unter der Inflationsrate bewegen.

Die ukrainische Grenze ist nur 600 Kilometer von Wien entfernt. Wie betrifft der Krieg die ÖBB?
Wir befördern in grosser Zahl Vertriebene, die aus Ungarn und Rumänien, teilweise auch aus Polen und Tschechien kommen. Da haben wir 340'000 Tickets ausgestellt.

In der Schweiz durften die Ukrainerinnen und Ukrainer einfach mit ihrem Pass fahren.
Das geht bei uns auch. Doch wir haben festgestellt, dass es die Menschen beruhigt, wenn sie ein richtiges Stück Papier in der Hand haben. Das gibt Sicherheit. Noch immer sind es täglich zwischen 200 und 400 Vertriebene, die mit dem Zug in Österreich ankommen, weiter- oder zurückfahren.

Als Präsident der Europäischen Eisenbahnvereinigung (CER) koordinieren Sie Weizentransporte aus der Ukraine, um den durch Putin blockierten Schiffsverkehr auszugleichen. Muss Afrika dank Ihnen nicht hungern?
Die ÖBB allein haben 340’000 Tonnen Getreide transportiert, die europäischen Bahnen in Summe anderthalb Millionen. Aber komplett ausgleichen können wir die Schiffstransporte nicht. Es ist wichtig, dass die Seewege jetzt wieder halbwegs funktionieren, weil die Lebensmittel damit direkt nach Afrika runtergehen. Aktuell wurde auch eine Bahnstrecke in der Südukraine modernisiert, damit kommt man zu den Donau-Häfen. So kann man das Getreide shutteln, statt es mit dem Zug 2000 Kilometer nach Norddeutschland zu fahren und erst dort im Hafen umzuladen.

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