Der russische Präsident Wladimir Putin (69) ist nicht verrückt und durchgeknallt, sondern ein rationaler Akteur. Davon zumindest geht die Spieltheorie aus. Sie untersucht, wie verschiedene Akteure im Konfliktfall zu ihren Entscheidungen kommen. Roger Myerson (71) ist eine Koryphäe in der Konfliktforschung. Er beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Ukraine, hat das Land bereits mehrfach bereist und beriet die ukrainische Führungsriege bis zum Ausbruch des Konflikts dabei, die ukrainische Demokratie zu stabilisieren – und zwar nach dem Vorbild der Schweiz. Myerson nahm vor kurzem an einem internationalen Symposium der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften teil, wo Blick ihn zum virtuellen Interview treffen konnte.
Blick: Herr Myerson, in Lugano wird über den Wiederaufbau in der Ukraine diskutiert. Heisst das im Umkehrschluss, dass der Krieg bald endet?
Roger Myerson: Davon gehe ich leider nicht aus. Die Geschichte lehrt uns: Die meisten Kriege dauern viele Jahre. Es gibt in meinen Augen drei mögliche Szenarien für ein Kriegsende: erstens, Russland gewinnt; zweitens, die Ukraine gewinnt. Beides ist nicht besonders realistisch ...
Wie also sieht das dritte Szenario aus?
Ein Abkommen, das einige schwierige Kompromisse auf beiden Seiten erfordert. Möglicherweise gibt die Ukraine Russland einen Teil ihrer Gebiete ab – im Austausch gegen glaubwürdige Garantien für einen lang anhaltenden Frieden. Das Problem ist, dass die Ukrainer nicht daran glauben, dass Wladimir Putin dann aufhört. Sie denken zum Beispiel an Tschetschenien. 1996 gab es ein Friedensabkommen zwischen Russland und den Tschetschenen. Drei Jahre später marschierte Russland erneut ein, brachte die autonome Region unter seine Kontrolle und installierte als Oberhaupt eine Kreml-Marionette.
Warum sollte es Putin dieses Mal anders machen?
Weil er in erster Linie ein gerissener Politiker ist. Er will an der Macht bleiben und dafür braucht er die Unterstützung des russischen Volkes. Er kontrolliert die Medien und damit auch die öffentliche Meinung zwar weitgehend, aber nicht vollständig. Wir müssen es schaffen, den Russinnen und Russen mitzuteilen – und vor allem der Elite rund um Putin –, dass sie besser dran sind, wenn die Ukraine unabhängig bleibt.
Inwiefern?
Die Ukraine wäre eine Art Brücke zwischen Ost und West. Wenn die Ukraine floriert – und damit der Handel in beide Richtungen, hilft das allen, von Moskau bis Madrid. Den USA geht es ja auch besser, indem sie Kanada als unabhängigen Nachbarn haben. Das haben wir in den USA auch nicht immer so gesehen, aber heute sind wir schlauer.
Warum sollten die Russen auf uns hören?
Das ist der Knackpunkt. Wenn ich, ein US-Amerikaner, ihnen das sage, glauben sie mir sowieso nicht. Noch viel weniger, wenn der US-Präsident es ihnen sagt. Da kommt die Schweiz ins Spiel: Sie war nie Teil der Nato, hat in der Vergangenheit nie Position für oder gegen Russland bezogen. Kein anderes Land kann jetzt glaubwürdiger zu den Russinnen und Russen sprechen. Wenn die Schweiz Lösungsvorschläge macht, wirkt es nicht wie ein Nato-Komplott. Diese Rolle – diese Verantwortung! – sollte die Schweizer Regierung sehr ernst nehmen.
Aber die Schweiz ist doch Teil der internationalen Sanktionen gegen Russland. Haben wir damit nicht automatisch schon Partei ergriffen?
Nein. Die Schweiz tut recht daran, die Invasion Russlands zu verurteilen. Russland hat kein Recht, die Grenzen eines international anerkannten Landes zu verschieben – auch aus unabhängiger, neutraler Warte nicht. Die Sanktionen sind richtig. Sie nützen nur leider nicht genug. Besonders weil Europa weiterhin massenhaft Gas importiert.
Als US-Amerikaner können Sie einfach einen Importstopp fordern, Ihnen wird dadurch ja nicht kalt.
Da haben Sie recht. Aber auch Europa kann etwas tun: Die EU könnte einen hohen Zolltarif auf russisches Gas einführen, mir schweben 100 Prozent vor. Für jeden Euro, der für Gaslieferungen nach Russland wandert, könnte man einen weiteren Franken in einen Fonds investieren. Aus diesem Fonds würde man Waffenlieferungen in die Ukraine bezahlen.
Und somit beide Seiten finanziell unterstützen und den Konflikt verlängern?
Ich weiss, es ist schrecklich. Aber besser, man unterstützt beide Seiten als nur die russische ...
Die Schweiz ist Gastgeberin der jährlichen Reformkonferenz für die Ukraine. Wegen des Kriegs wurde das Treffen am 4. und 5. Juli in Lugano in «Ukraine Recovery Conference» umbenannt. Teilnehmen wird unter anderem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Insgesamt sind rund 40 Staaten und 20 internationale Organisationen eingeladen. Die Ukraine plant laut einem «Forbes»-Bericht die Präsentation eines «Marshall-Plans» für den Wiederaufbau.
Die Schweiz ist Gastgeberin der jährlichen Reformkonferenz für die Ukraine. Wegen des Kriegs wurde das Treffen am 4. und 5. Juli in Lugano in «Ukraine Recovery Conference» umbenannt. Teilnehmen wird unter anderem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Insgesamt sind rund 40 Staaten und 20 internationale Organisationen eingeladen. Die Ukraine plant laut einem «Forbes»-Bericht die Präsentation eines «Marshall-Plans» für den Wiederaufbau.
Zurück zur Schweiz: Neben der Vermittlerrolle sehen Sie die Schweiz auch als Vorbild für die Zukunft der Ukraine. Was sollte sich die Ukraine hierzulande abschauen?
Zwei Dinge. Einerseits die bewaffnete Neutralität. Die Ukraine wird ihre Unabhängigkeit nur bewahren können, wenn sie auch nach dem Krieg eine starke Armee behält. Sie darf dabei gegenüber Russland aber nicht bedrohlich wirken, sonst droht der nächste Konflikt. Der Ukraine muss es gelingen, bewaffnet zu sein und dabei doch harmlos zu wirken.
Und der zweite Punkt?
Das föderale System. Die Ukraine hat ihre Institutionen in den letzten Jahren bereits in diese Richtung umgebaut. Sie hat mehr Macht an die lokalen Bürgermeister übertragen. Darauf müssen wir auch beim Wiederaufbau Wert legen. Die Gelder sollten nicht einfach in einen nationalen Topf in Kiew wandern, sondern zumindest zum Teil direkt an die Lokalregierungen gehen. Sie wissen am besten, wo Hilfe vor Ort am dringendsten benötigt wird. Es ist eine gute Sache, dass die Wiederaufbaukonferenz ausgerechnet in der Schweiz stattfindet!