Zoff um Ukraine-Gipfel in Lugano
Selenski wollte Opposition ausschliessen

In der Schweiz wird nächste Woche der Wiederaufbau der Ukraine geplant. Nach Blick-Informationen kracht es auf ukrainischer Seite hinter den Kulissen.
Publiziert: 30.06.2022 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 30.06.2022 um 15:59 Uhr
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Ukraines Staatspräsident Wolodimir Selenski führt das Land durch den Krieg.
Foto: EPA
Fabienne Kinzelmann, Mitarbeit: Olha Petriv

Gemeinsam gegen Putin. Das war einmal in der Ukraine. Vier Monate nach Kriegsbeginn bröckelt die Einheit in Kiew, die parteiübergreifende Harmonie im Parlament ist passé. Im Zentrum des Zoffs: der Ukraine-Gipfel am 4. und 5. Juli in der Schweiz. Die Regierungspartei Diener des Volkes wollte die Opposition offenbar von der Teilnahme ausschliessen. Das zeigen Blick-Recherchen.

«Selenskis Partei wollte nur die eigenen Abgeordneten nach Lugano schicken», sagt eine Politikerin der Werchowna Rada, des ukrainischen Parlaments, zu Blick. Raus kam das erst vor rund zwei Wochen, als die Delegation in einem parteiübergreifenden Gremium bestätigt werden sollte. «Wir haben erst davon erfahren, als wir die Liste sahen», erzählt eine andere Parlamentarierin.

Schliesslich kam es zum Eklat. Im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten wurde gestritten, bis die Regierungspartei vier weiteren Fraktionen die Entsendung einer Vertreterin oder eines Vertreters erlaubte.

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21 Selenski-Abgeordnete – und nur vier andere

Mehrere Abgeordnete bestätigen den Vorfall. Aus Sorge, von der Regierungspartei sanktioniert und von künftigen Reisen ausgeschlossen zu werden, möchten sie anonym bleiben.

Blick liegt zudem die Liste der teilnehmenden ukrainischen Abgeordneten an der «Ukraine Recovery Conference» (URC2022) vor, die in Lugano TI stattfindet.

Darum gehts beim Ukraine-Gipfel in Lugano

Die Schweiz ist Gastgeberin der jährlichen Reformkonferenz für die Ukraine. Wegen des Kriegs wurde das Treffen am 4. und 5. Juli in Lugano in «Ukraine Recovery Conference» umbenannt. Teilnehmen wird unter anderem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Insgesamt sind rund 40 Staaten und 20 internationale Organisationen eingeladen. Die Ukraine plant laut einem «Forbes»-Bericht die Präsentation eines «Marshall-Plans» für den Wiederaufbau.

Die Schweiz ist Gastgeberin der jährlichen Reformkonferenz für die Ukraine. Wegen des Kriegs wurde das Treffen am 4. und 5. Juli in Lugano in «Ukraine Recovery Conference» umbenannt. Teilnehmen wird unter anderem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Insgesamt sind rund 40 Staaten und 20 internationale Organisationen eingeladen. Die Ukraine plant laut einem «Forbes»-Bericht die Präsentation eines «Marshall-Plans» für den Wiederaufbau.

Neben 21 Abgeordneten aus Selenskis Partei Diener des Volkes dürfen je eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter der Fraktionen von Europäische Solidarität, Holos und Vaterland in die Schweiz reisen. Zudem darf jemand von der Partei Für die Zukunft kommen, die im Parlament die Regierungspartei unterstützt.

Die Regierungsfraktion schickt damit mehr als siebenmal so viele Abgeordnete nach Lugano wie die drei weiteren zugelassenen Fraktionen – auch wenn sie inklusive zweier Unterstützungsparteien im Parlament nur knapp viermal so viele Vertreter hat.

Ex-Präsident Poroschenko konnte nicht zu Nato-Treffen

Die Opposition ist mächtig sauer. Sie sieht in dem Vorgang ein Muster. Nach mehreren «erfolgreichen gemeinsamen Reisen» in den ersten beiden Kriegsmonaten würden Selenskis Abgeordnete ihre Amtskollegen zunehmend ausschliessen.

Davon zeugt auch ein Vorfall rund um Ukraines Ex-Präsident Petro Poroschenko (56), der am 28. Mai auf dem Weg zu einem Nato-Treffen in Litauen offenbar an der Grenze gestoppt wurde. Der ehemalige Staatschef, der heute für die von ihm gegründete proeuropäische Partei Europäische Solidarität im Parlament sitzt, warf der Regierung daraufhin Wortbruch vor. Nach Putins Einmarsch wurden prorussische Kräfte zwar aus dem Parlament verbannt, die übrigen Parteien einigten sich aber auf einen «politischen Waffenstillstand» – eine stillschweigende Übereinkunft, im gemeinsamen Kampf gegen den Feind innenpolitische Meinungsverschiedenheiten beiseitezuschieben.

Opposition wirft Selenski Machtspiele vor

Die oppositionellen Abgeordneten im Parlament fühlen sich an den Rand gedrängt. Sie werfen Selenski und seiner Partei vor, die Kriegssituation unverhältnismässig für den Ausbau der eigenen Macht zu nutzen.

Die Strategie betrifft nach Eindruck einer Parlamentarierin, mit der Blick sprach, auch das seit Kriegsbeginn von der Regierung kontrollierte Fernsehprogramm: «Abgeordnete, die nicht aus der Regierungspartei sind, sind in der wichtigsten Informationsquelle der Öffentlichkeit nicht mehr vertreten. Wer einschaltet, hat den Eindruck, es gäbe nur noch den Präsidenten und seinen Stab und seine Partei, die für die Ukraine kämpfen und das Land retten wollen.»

Ob das im Sinne des Präsidenten ist? «Oh ja», sagt die Politikerin, «er will das so.»

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Abgeordnete: «Niemand will das ‹Team Ukraine› ändern»

Die Regierungspartei widerspricht. «Die Delegationsliste für Lugano ist ausbalanciert, und wir haben während dieser herausfordernden Zeit eine grossartige Zusammenarbeit mit der Opposition», sagt Maria Mezentseva (32), Abgeordnete von Diener des Volkes und stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für die EU-Integration, zu Blick. So tauschten die Parlamentarierinnen und Parlamentarier zum Beispiel parteiübergreifend Kontakte zu ausländischen Medien aus.

Mezentseva betont, sie habe selbst schon an vielen parteiübergreifenden Reisen teilgenommen. «Wir achten immer auf den Mix. Wir werden als ‹Team Ukraine› wahrgenommen, und niemand will das ändern. Aber wir sind die grösste Partei, also schicken wir natürlich mehr Abgeordnete.»

Die Teilnehmer seien rein «nach fachlichen Gesichtspunkten» ausgewählt, teilt Partei-Sprecherin Yulia Paliychuk (35) auf Blick-Anfrage mit. «Ich möchte uns alle daran erinnern, dass jetzt definitiv nicht die Zeit für Polittourismus oder irgendwelche unbegründeten Auslandsreisen ist.» Die ausgewählten Abgeordneten seien bereits an entsprechenden Projekten beteiligt, verfügten über ausreichende Kompetenzen in diesem Bereich oder hätten zuvor in einschlägigen Arbeits- oder interparlamentarischen Gruppen gearbeitet.

Die Opposition kritisiert jedoch auch das, weil Selenskis erst 2018 gegründete Partei vor allem aus Polit-Neulingen besteht. «In Lugano gehts um die Wirtschaft der Ukraine und den Wiederaufbau, nicht um Parteipolitik. Es braucht Expertise in den Bereichen, die wir wieder aufbauen müssen», sagt eine langjährige Abgeordnete. Sie lobt Diener des Volkes für den Elan bei Kriegsbeginn und die «fantastische Kommunikation». Doch die Abgeordnete zweifelt daran, dass die Mitglieder von Selenskis Partei erfahren genug für die nächste Phase sind.

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Lugano-Gipfel «entscheidend» für die Zukunft der Ukraine

«Sie waren super in den ersten ein, zwei Kriegsmonaten. Aber wir müssen nun gleichzeitig die Russen besiegen und das Land vor dem wirtschaftlichen Kollaps retten. Die Wirtschaft muss laufen, die Sozialsysteme müssen funktionieren, und wir müssen ganze Gebiete wieder aufbauen. Machen wir das nicht gut und schnell genug, kommen die Menschen nicht zurück und wir verlieren einen grossen Teil der Bevölkerung, der in anderen Ländern sesshaft bleiben wird», sagt die Politikerin, die selbst bereits mehrere leitende Funktionen in Ministerien und öffentliche Ämter innehatte.

Sie und andere Abgeordnete befürchten ausserdem, dass es in Lugano nur ums schnelle Geld geht. Sie kritisieren die Umbenennung der von der Schweiz durchgeführten Konferenz von «Reform Conference» in «Recovery Conference». «Es scheint, als spielt die Reform-Agenda keine Rolle mehr. Dabei brauchen wir sie als Rückgrat für den Wiederaufbau», erklärt eine Politikerin, die sich der Annäherung an die EU verschrieben hat. Eine andere sagt: «Wir gewinnen diesen Krieg zu 100 Prozent. Aber alles, was danach kommt, macht mir Sorgen.»

Der Ukraine-Gipfel in Lugano sei entscheidend, um das Land nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich und politisch nach vorne zu bringen. Doch noch immer hätten die Experten der Opposition kaum Informationen zu dem wichtigen internationalen Treffen. Das werde von der Regierung vorbereitet.

Und die hätte kein Interesse mehr daran, zusammenzuarbeiten.

So funktioniert die ukrainische Politik

Neben dem Präsidenten Wolodimir Selenski (44) und seiner Regierung, die von einem Ministerpräsidenten geleitet wird, ist das Einkammer-Parlament Werchowna Rada das Herz der ukrainischen Demokratie. Selenskis wirtschaftsliberale und proeuropäische Partei Diener des Volkes (ukrainisch: Sluha narodu) gewann nur ein Jahr nach ihrer Gründung bei der Parlamentswahl 2019 die Mehrheit und stellt 240 der 450 Abgeordneten. Die wichtigsten demokratischen Oppositionsparteien sind die von Ex-Präsident Petro Poroschenko (56) geführte Europäische Solidarität, die vergleichsweise junge und progressive Partei Holos sowie die von der ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko (61) gegründete Partei Vaterland.

Neben dem Präsidenten Wolodimir Selenski (44) und seiner Regierung, die von einem Ministerpräsidenten geleitet wird, ist das Einkammer-Parlament Werchowna Rada das Herz der ukrainischen Demokratie. Selenskis wirtschaftsliberale und proeuropäische Partei Diener des Volkes (ukrainisch: Sluha narodu) gewann nur ein Jahr nach ihrer Gründung bei der Parlamentswahl 2019 die Mehrheit und stellt 240 der 450 Abgeordneten. Die wichtigsten demokratischen Oppositionsparteien sind die von Ex-Präsident Petro Poroschenko (56) geführte Europäische Solidarität, die vergleichsweise junge und progressive Partei Holos sowie die von der ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko (61) gegründete Partei Vaterland.

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