Nach EZB-Zinsentscheid
«Ein italienischer Staatsbankrott würde die Eurozone zerreissen»

Die EU steckt in einer tiefen Misere: Die hohe Verschuldung einzelner Mitgliedstaaten schränkt den Kampf gegen die Inflation massiv ein. Das grösste Sorgenkind ist Italien, das für die EU «too big to fail» ist.
Publiziert: 22.07.2022 um 20:05 Uhr
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Aktualisiert: 23.07.2022 um 08:06 Uhr
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Die Europäische Zentralbank hat den Kampf gegen die Inflation aufgenommen und den Leitzins erhöht.
Foto: Shutterstock
Martin Schmidt

Die Europäische Union hat mehr als nur einen leichten Schnupfen. Sie ist richtig krank und fürchtet sich vor jedem wackligen Schritt. Dieser könnte der Wirtschaft die Luft abschnüren und die Union in eine Rezession stürzen. Besonders im Fall von Italien.

Am Donnerstag erhöhte die Europäische Zentralbank (EZB) zum ersten Mal seit elf Jahren den Leitzins. Sie war damit deutlich später dran als die USA oder auch die Schweiz. Der Grund: Gleich mehrere EU-Mitgliedstaaten ächzen unter einer massiven Verschuldung. Das schränkt den Spielraum der EZB erheblich ein. Denn höhere Zinsen könnten die verschuldeten Länder an den Rande eines Staatsbankrotts bringen. Für sie wird es nun teurer, neues Geld aufzunehmen. Wer schon hoch verschuldet ist, muss für neue Kredite zusätzliche Risikoaufschläge bezahlen.

Italien als Gefahr für ganze Eurozone

Spitzenreiter unter den Euroländern ist nach wie vor Griechenland mit einer Schuldenquote von über 202 Prozent. Auch Italien ist mit einer Verschuldung von über 154 Prozent vorne mit dabei. Dort wird die Lage durch die Regierungskrise zusätzlich verschärft. Wenn die Regierung in Rom am Markt frisches Geld aufnimmt, kommt sie das wegen der Risikozuschläge teurer zu stehen, als wenn die Regierung in Berlin mit einer tiefen Staatsverschuldung dasselbe tut.

Die EZB sah sich deshalb gezwungen, gleichzeitig mit dem Zinsschritt das «Transmission Protection Instrument», kurz TPI, ins Leben zu rufen. Mit diesem Werkzeug will sie die Zinsen auf Staatsanleihen innerhalb der Eurozone möglichst einheitlich halten.

«Kann Italien seine Staatsschulden nicht mehr bedienen, hat die EU ein Problem. Ein italienischer Staatsbankrott würde die Eurozone zerreissen», sagt Reto Föllmi (46), Volkswirtschaftsprofessor an der Universität St. Gallen. «Die EU könnte die Verschuldung der drittgrössten Volkswirtschaft unter den Mitgliedern nicht übernehmen.»

Zinsen werden noch deutlich steigen

Das neue Zinsniveau von 0,5 Prozent bringt Italien noch nicht an den Abgrund. Doch die EZB hat schon weitere Zinsschritte angekündigt. Denn im Kampf gegen die Inflation dürfte der erste Schritt kaum ausreichen. In Ländern wie Deutschland, Italien oder Spanien lag sie Ende Juni bereits zwischen 8,2 und 10 Prozent. In den baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland sogar zwischen 19,2 und 22 Prozent. Zum Vergleich: In der Schweiz bewegt sich die Inflation bei 3,4 Prozent.

Fragt sich, wie stark die EZB die Zinsschrauben noch anzieht. «Das ist schwierig vorherzusehen», sagt Föllmi. «Solange die Zinsen deutlich unter der Kerninflation liegen, wird die EU die Inflation jedoch nicht unter Kontrolle bringen.» Die Kerninflation beträgt derzeit 3,7 Prozent. Bei ihr werden sehr volatile Produkte wie Energie oder Nahrungsmittel herausgerechnet.

Im Umkehrschluss heisst das, dass die EZB den Leitzins von aktuell 0,5 Prozent möglicherweise noch um mehrere Prozentpunkte anheben muss, um die Inflation in den Griff zu kriegen. Ein derart hoher Leitzins würde den Schuldenstaaten arg zusetzen, schliesslich müssen sie für ihre Schulden am Markt einen Aufschlag bezahlen.

Italien braucht Reformen

«Steigen die Zinsen für Italien auf 5 Prozent, müsste das Land bei seiner aktuellen Verschuldung bereits 7,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts allein für die Zinszahlungen aufwenden», so der Volkswirtschaftsprofessor. Sobald die Zinsen 10 Prozent des BIP fressen, sei dies kaum mehr zu stemmen.

In den Schuldenstaaten wären dringende Strukturreformen notwendig. Die Entwicklung der italienischen Wirtschaft stagniert seit Jahrzehnten. «Die Löhne sind praktisch auf dem Niveau wie vor 20 Jahren, und die Steuerkraft ist darum nicht gewachsen», sagt Föllmi.

Er nennt zwei Ansatzpunkte: Italien müsste dringend sein Arbeitsrecht flexibler und das Bildungssystem praxisnäher gestalten, damit Angestellte leichter Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Doch hier könnte sich ein Schwachpunkt des TPI rächen. Korrigiert die EZB die Zinsen der schwer verschuldeten Länder, sinkt bei diesen der Druck für die nötigen Reformen.

Kriegsende könnte Rezession noch verhindern

Mit den fälligen Zinsschritten droht der EU zudem eine Rezession, die vor allem den angeschlagenen Mitgliedstaaten einen weiteren Dämpfer versetzen würde. «Ob es wirklich zu einer Rezession kommt und wie lange diese anhalten könnte, lässt sich derzeit nicht sagen», betont Föllmi.

Ein baldiges Ende des Ukraine-Kriegs könnte eine Rezession oder gar eine erneute Schuldenkrise im Euroraum womöglich noch verhindern. Dann dürften sich die Energiepreise wieder normalisieren und die Inflation deutlich abschwächen. Doch Föllmi sagt: «Dieses Szenario ist aktuell aber leider eher unwahrscheinlich.»


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