Matteo A.* (50) hatte alles: eine Frau, zwei Kinder, ein grosses Haus und einen gut bezahlten Job als Wirtschaftsinformatiker bei einer Grossbank. Heute sieht sein Leben anders aus: Er hat 80’000 Franken Schulden und einen Beistand, der seine Finanzen regelt.
Am Anfang dieser Abwärtsspirale standen riskante Börsengeschäfte. Oder besser gesagt: der Drang nach dem schnellen Geld.
Mit diesem Wunsch ist A. nicht allein. In den vergangenen Monaten hat die Zahl der Menschen, die an der Börse ihr Glück versuchen, massiv zugenommen. 2020 wurden an der Schweizer Börse 394’000 Transaktionen getätigt – pro Handelstag! Das ist ein Plus von 55 Prozent gegenüber 2019.
Im neuen Jahr hält der Börsenboom an. Diese Woche erreichte der amerikanische Dow-Jones-Index ein neues Allzeithoch, der deutsche Leitindex Dax ebenso. Und auch der Schweizer Leitindex SMI kratzt an einer neuen Rekordmarke.
Die omnipräsenten Gewinner
Angeheizt wird das Börsenfieber durch tiefe Zinsen, die wirtschaftlichen Umwälzungen durch Corona, das Homeoffice – sowie spektakuläre Kursrallys einzelner Aktien und Kryptowährungen. Letztere werden begleitet von märchenhaften Erfolgsstorys in den (sozialen) Medien.
Ende Jahr titelte etwa die deutsche «Bild»-Zeitung: «Bitcoin-Boom – über Weihnachten wurden viele Leute reich». Und als im Januar der Aktienkurs des US-Videospiel-Händlers Gamestop explodierte, frohlockte ein Zürcher Kleinanleger im BLICK: «Ich habe mit Gamestop zwei Millionen Franken verdient.» Da fragt sich so mancher: Soll ich auch einsteigen?
Was dabei oft vergessen geht: Nach dem rasanten Anstieg geht die Kurve von Aktien und Kryptowährungen oft genauso schnell und steil wieder nach unten. Ende 2017 war ein Bitcoin rund 20’000 US-Dollar wert. Ein Jahr später waren es noch zwischen 3000 und 4000 Dollar. Noch extremer bei Gamestop: Wer die Aktie am 27. Januar 2021 kaufte, bezahlte dafür fast 350 Dollar. Eine Woche später war das Papier nur noch 50 Franken wert. Wer im falschen Moment einsteigt, hat das Nachsehen.
Weniger Geld, mehr Risiko
Matteo A. war schon immer fasziniert von den Finanzmärkten. Er hat zahlreiche Investment-Bücher gelesen, besuchte mehrere Trading-Seminare. In den 90er-Jahren investierte er begeistert in die neu aufkommenden Internetbuden. «Eine Aktie hier, ein Optiönchen dort – lange konnte man kaum etwas falsch machen.»
Dann kam das neue Jahrtausend, und die Dotcom-Blase platzte. A. verlor viel Geld. Ins Elend stürzte ihn der Börsencrash aber nicht. «Ich verdiente damals mehr als 10’000 Franken im Monat und konnte die Einbussen deshalb einigermassen auffangen.»
Finanzielle Probleme bekam er erst nach der Scheidung von seiner Frau und dem Verlust seines Jobs. «Plötzlich musste ich mit deutlich weniger Geld auskommen – und da habe ich versucht, das übers Traden zu kompensieren.»
A. riskierte immer mehr – und die Verluste wurden immer grösser. «Ich habe völlig die Kontrolle verloren. Am schlimmsten waren Finanzprodukte mit grosser Hebelwirkung. Da waren manchmal innert Minuten mehrere Tausend Franken weg.»
Das doppelte Spiel der Broker
Besonders heimtückisch sind sogenannte CFD (Contracts for Difference), zu Deutsch Differenzkontrakte. Mit diesem Finanzprodukt muss man die gehandelten Aktien, Währungen oder Edelmetalle nicht besitzen, sondern kann darauf wetten, ob deren Wert steigen oder fallen wird – und das mit extrem hoher Hebelwirkung.
Je nach Einsatz kann zum Beispiel ein Punkt beim SMI gut und gern mehrere Hundert Franken ausmachen. Innerhalb eines Tages bewegt sich der SMI in der Regel um die 50 bis 200 Punkte. So sind innert kürzester Zeit hohe Gewinne möglich – aber natürlich genauso hohe Verluste.
Gehandelt werden solche Produkte je länger, je mehr über Trading-Apps und Online-Plattformen. Marc Arnold, Finanzprofessor an der Universität St. Gallen (HSG), warnt vor Gefahren für die User. «Problematisch ist, dass die Betreiber dieser Angebote, die Broker, ein finanzielles Interesse daran haben, die User zu häufigen Trades zu animieren.»
Denn die meisten Broker erhielten bei jedem Trade eine Gebühr. «Diese Gebühren gehen in der Regel zu Lasten der User und schmälern daher langfristig deren Performance massiv, insbesondere bei häufigen Trades.»
Auf vielen Apps wird der Börsenhandel mittlerweile wie ein Spiel dargestellt. Bei Robinhood zum Beispiel – der US-Broker, der die Gamestop-Rally möglich machte – genügt ein Wisch über den Bildschirm, und die Aktie ist im Portfolio.
Zudem kommunizieren die Anbieter laufend mit ihren Nutzern. Mal kommt eine Nachricht, weil ein User über Nacht reich geworden ist. Dann erscheint ein Push, weil eine Aktie durch die Decke gegangen ist, ohne dass der Nutzer davon profitiert hat.
«Die Broker verleiten ihre User mit Push-Meldungen zu mehr und zu risikoreicheren Trades», sagt HSG-Professor Arnold. Beweis dafür ist eine gross angelegte Studie, die er mit Kollegen aus Deutschland und den USA durchgeführt hat. Hübscher Nebeneffekt für die Broker: Für riskantere Transaktionen kassieren sie in der Regel auch höhere Gebühren.
Die gefährliche Selbstüberschätzung
Ein Opfer dieses Geschäftsmodells ist Heiko S.* (38), Serviceangestellter im Gastgewerbe. «Angefangen hat alles mit einem Inserat des Trading-Anbieters Plus500», erinnert er sich. «Dieses versprach auch Leuten mit wenig Kapital die Aussicht auf hohe Renditen.»
S., der bis dahin nichts mit der Börse am Hut hatte, sieht seine grosse Chance: «Früher waren Aktien für mich nur was für Reiche. Jetzt konnte ich plötzlich selbst darauf setzen, ob der Dax steigt oder fällt.»
Die ersten 1000 Franken verzockt er völlig unbedarft. Danach befasst er sich vertieft mit dem Thema. Er liest Berichte von Analysten, beobachtet Arbeits- und Beschäftigungszahlen, verfolgt Aktien-, Index-, und Rohstoffpreise. «Je mehr Wissen ich mir aneignete, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass ich die Kursentwicklungen korrekt vorhersehen kann.»
Ab und an trifft er ins Schwarze. Einmal macht er innerhalb von 15 Minuten 7000 Franken – und in der Viertelstunde darauf gleich noch mal. «Da war ich komplett in einem Film!» Am Ende kommt es wie meist: alles weg.
Das ist mehr als eine Floskel. Teodoro Cocca, Professor für Asset und Wealth Management an der Universität Linz in Österreich, sagt: «Laut Studien erwirtschaften langfristig weniger als ein Prozent aller Day-Trader positive Renditen.»
Als Day-Trader definiert Cocca Investoren, die ihre Börsentransaktionen selbständig durchführen, Trades online aufgeben, das Handelsgeschehen tagtäglich eng verfolgen und dabei durchschnittlich mehrere Trades pro Woche durchführen. Er schätzt, dass in der Schweiz einige Tausend Anleger zu dieser Kategorie gehören.
Die Tatsache, dass heute jeder auf umfassende Finanzinformationen zurückgreifen kann, sieht der Finanzprofessor als zweischneidiges Schwert: «Das gibt vielen das Gefühl, das Börsengeschehen zu beherrschen. Dabei wird jedoch ausgeblendet, dass Millionen von Menschen die genau gleichen Möglichkeiten haben. Man hat deshalb nicht wirklich einen Vorteil.»
Der Kick im Alltag
Heikos Verluste werden grösser und grösser. Doch er kann nicht aufhören. Um jeden Preis versucht er das verlorene Geld wieder reinzuholen: «Oft habe ich nächtelang nur Kurse angeschaut, Kaffee getrunken und geraucht. Auch beim Arbeiten an der Rezeption oder an der Bar blickte ich ständig aufs Handy. Soziale Kontakte habe ich komplett vernachlässigt.»
Was die Börsensucht besonders perfide macht: Ob in Australien, Japan, Europa oder in den USA – irgendwo auf der Welt wird immer gehandelt. Die Finanzindustrie schläft nie. «Follow the sun», lautet das Motto.
Den Monatslohn überweist S. direkt aufs Trading-Konto. Zeitweise besitzt er fünf Kreditkarten, um zusätzliches Geld zu generieren. Zudem beantragt er mehrere Konsumkredite. «Solange du keinen Eintrag im Betreibungsregister hast, ist das ein Kinderspiel», erklärt er.
Heute beläuft sich sein Schuldenberg auf 50’000 Franken. Nach Abzug von Miete und Krankenkasse muss er mit 1200 Franken pro Monat auskommen. Der Rest seines Einkommens wird gepfändet. «Es ist eine bescheidene Situation», sagt er trocken.
Doch S. hat sich nicht aufgegeben. Zweimal pro Woche geht er zur Therapie ins Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen an der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel. Er glaubt an ein Leben ohne Trading: «Im Prinzip habe ich es ja längst kapiert: Es spielt keine Rolle, wie viel ich gewinne. Da ich nicht aufhören kann, verliere ich am Ende sowieso wieder alles.»
Psychologe Franz Eidenbenz vom Zentrum für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte in Zürich kennt viele Fälle, denen es ähnlich geht wie S. Für ihn steht deshalb fest: «Das Traden an der Börse hat genauso grosses Suchtpotenzial wie Spielautomaten oder Sportwetten.»
Vielen Betroffenen gehe es nur scheinbar ums Geld. Mit der Zeit werde der Kick, der den öden Alltag begleitet, der wichtigere Suchtfaktor. «Dieser ist für Betroffene durch nichts zu ersetzen. Sie müssen wieder lernen, sich an kleinen Dingen im Alltag zu erfreuen.»
Die besten Chancen auf eine erfolgreiche Behandlung sieht Eidenbenz in der Kombination von Einzel- und Gruppentherapie. «Da treffen die Betroffenen auf Leute, die in der Suchtbekämpfung schon weiter sind. Diese sind gute Vorbilder und können die Situation der anderen gut nachempfinden. Das hilft enorm.»
Der lange Weg zurück
Auch Wirtschaftsinformatiker Matteo A. hat mittlerweile erkannt, dass er professionelle Hilfe braucht. Zwei Jahre zuvor war es dafür fast zu spät: Drei Jobverluste innert fünf Jahren. Der riesige Schuldenberg vor Augen. Zu viel. A. versuchte seinem Leben ein Ende zu setzen.
Die Depressionen sind noch immer nicht ganz verschwunden. Zwar spricht er sehr offen über seine Sucht und sein Leben. Doch man spürt, wie er hadert, kämpft, leidet. Aber es geht aufwärts. Die Suchttherapie und die psychologische Unterstützung helfen. Zudem arbeitet er zusammen mit der IV an seiner Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. «Sobald ich wieder einen Job habe als Wirtschaftsinformatiker, will ich eine Schuldensanierung beantragen.»
Was A. Zuversicht gibt: Er ist seit vier Monaten clean. Das Traden überlässt er anderen.
* Namen geändert
1. Hohe Renditen ohne hohe Risiken gibt es nicht. Punkt. Glauben Sie niemandem, der etwas anderes erzählt.
2. Häufiges Traden bringt Kleinanlegern nichts. Die Transaktionsgebühren fressen einen Grossteil der Gewinne wieder weg – wenn es denn Gewinne gibt. Anleger sind langfristig erfolgreicher als Trader.
3. Je früher Sie anlegen, desto besser. Ein langer Zeithorizont verkleinert bei risikoreichen Anlagen wie Aktien die Gefahr von Verlusten.
4. Investieren Sie gestaffelt. Es ist sicherer, über zwei Jahre hinweg monatlich 1000 Franken in einen Fonds zu investieren als 24’000 Franken auf einen Schlag. Dadurch verliert der Einstiegszeitpunkt an Bedeutung.
5. Diversifizieren Sie Ihr Anlageportfolio. Wer nur einige wenige Aktien kauft, geht ein grosses Risiko ein. Das gilt erst recht für hoch volatile Anlagen wie Kryptowährungen.
6. Vertrauen Sie auf Ihre Anlagestrategie. Werfen Sie nicht alles über den Haufen, weil es an der Börse kurzzeitig zu Turbulenzen kommt. Die Rendite muss in 10, 20 oder 30 Jahren stimmen, nicht heute.
7. Bleiben Sie bescheiden. Aktien sind eine gute Möglichkeit, um von den Gewinnen erfolgreicher Unternehmen zu profitieren. Aber man wird nicht vom Tellerwäscher zum Milliardär.
1. Hohe Renditen ohne hohe Risiken gibt es nicht. Punkt. Glauben Sie niemandem, der etwas anderes erzählt.
2. Häufiges Traden bringt Kleinanlegern nichts. Die Transaktionsgebühren fressen einen Grossteil der Gewinne wieder weg – wenn es denn Gewinne gibt. Anleger sind langfristig erfolgreicher als Trader.
3. Je früher Sie anlegen, desto besser. Ein langer Zeithorizont verkleinert bei risikoreichen Anlagen wie Aktien die Gefahr von Verlusten.
4. Investieren Sie gestaffelt. Es ist sicherer, über zwei Jahre hinweg monatlich 1000 Franken in einen Fonds zu investieren als 24’000 Franken auf einen Schlag. Dadurch verliert der Einstiegszeitpunkt an Bedeutung.
5. Diversifizieren Sie Ihr Anlageportfolio. Wer nur einige wenige Aktien kauft, geht ein grosses Risiko ein. Das gilt erst recht für hoch volatile Anlagen wie Kryptowährungen.
6. Vertrauen Sie auf Ihre Anlagestrategie. Werfen Sie nicht alles über den Haufen, weil es an der Börse kurzzeitig zu Turbulenzen kommt. Die Rendite muss in 10, 20 oder 30 Jahren stimmen, nicht heute.
7. Bleiben Sie bescheiden. Aktien sind eine gute Möglichkeit, um von den Gewinnen erfolgreicher Unternehmen zu profitieren. Aber man wird nicht vom Tellerwäscher zum Milliardär.