Patrizia R.* (33) hat Hongkong im März verlassen – fluchtartig. «Die Stimmung war apokalyptisch», erzählt die Ostschweizerin Blick im Videocall. Gemeinsam mit ihrem Mann und den beiden Kindern ist sie Hals über Kopf in die Schweiz gereist. Die Eigentumswohnung blieb unberührt zurück. Auch der Familienhund konnte nicht mitreisen, derart überstürzt war der Aufbruch.
Patrizia R. lebt seit über acht Jahren in Hongkong. Sie hat ihren Mann, einen Kanadier, dort kennengelernt. Ihre beiden Kinder wurden dort geboren. «Es ist unser Zuhause. Aber es ging einfach nicht mehr», erzählt sie. Die Maskenpflicht in Hongkong gilt ab zwei Jahren. «Wie erkläre ich meinem zweijährigen Sohn, dass er eine Maske tragen muss? Und dass der Spielplatz zu ist? Wir haben dieses Spiel zwei Jahre lang mitgemacht. Aber es war einfach kein Ende in Sicht.»
Familie R. ist kein Einzelfall: Hongkong verliert jeden Monat zwischen 60'000 und 70'000 Einwohner. Gemäss dem Schweizer Konsulat in Hongkong haben über 12 Prozent der Schweizer Expats die Stadt in den letzten zwei Jahren verlassen.
Droht ein Lockdown wie in Shanghai?
«Die besten Zeiten Hongkongs sind vorbei», tönt es gegenüber Blick aus der Expat-Community. Die Null-Covid-Strategie der chinesischen Regierung gilt indirekt auch für die Sonderverwaltungszone Hongkong. Die chinesische Zentralregierung weitet ihren Einfluss dort seit Jahren aus.
Die Covid-Bestimmungen in Hongkong sind jüngst zwar gelockert worden. So müssen Einreisende nur noch eine Woche in Hotel-Quarantäne (statt drei). Strände sind wieder zugänglich. «In Hongkong hat es uns zwar weniger hart erwischt als in Shanghai», ergänzt die Auslandschweizerin Patrizia R. «Aber man weiss halt nie, was als Nächstes kommt.»
In Shanghai sitzen mehr als 25 Millionen Menschen seit fast zwei Monaten im Lockdown. Auch in Peking werden die Massnahmen zusehends verschärft. Offizielle Zahlen zur Abwanderung aus diesen Städten gibt es nicht. Doch der Trend ist eindeutig: In einer Umfrage der Online-Plattform «That's Shanghai» sagten jüngst 85 Prozent aller befragten Expats, sie würden einen Wegzug aus China aufgrund der Lockdown-Erfahrungen in Betracht ziehen. Die Umfrage ist inzwischen vom Netz genommen worden – Zensur.
Kinder werden von Eltern getrennt
«Früher konnte man von hier übers Wochenende nach Vietnam, Thailand oder Indonesien fliegen. Hongkong war der Dreh- und Angelpunkt für Reisen in Asien», erzählt der Schweizer Auswanderer Patrick Jaron (46) am Telefon. «Nun hat Hongkong einen Grossteil seiner Anziehungskraft verloren.» Jaron lebt seit Jahren in der Finanzmetropole. Doch wie lange noch? «Ich weiss es nicht. Die Hälfte meiner Freunde sind schon weggezogen.»
Besonders Expats mit Kindern kehren den chinesischen Metropolen mehr und mehr den Rücken. Nicht nur, weil die Schulen über die letzten zwei Jahre häufiger zu als offen waren. Sondern auch, weil die Behörden Kinder im Fall einer Covid-Infektion teils von ihren Eltern trennen. «Ich kenne zwei Familien, deren zwölfährige Töchter zwei Wochen allein in Quarantäne verbringen musste», erzählt Jaron. Die lokale NGO «Mind HK» berichtete Ende März von bis zu 2000 Kindern, die nach einem positiven Corona-Test von ihren Eltern getrennt worden seien.
Patrick Jaron hat selber einen zweijährigen Sohn – und will nicht nochmals von ihm getrennt werden. Zu Beginn der Pandemie war er für einen Geschäftstermin gerade in der Schweiz. Seine Frau, gebürtige Südkoreanerin, mit dem Neugeborenen bei ihrer Familie in Südkorea. «Wir konnten uns ein Jahr lang nicht sehen!», erzählt Jaron.
Krisengewinnerin Singapur
In einer Rangliste der Lebensqualität internationaler Grossstädte sind die chinesischen Metropolen jüngst regelrecht abgestürzt: Hongkong schafft es noch auf Rang 77 (zuvor 58). Shanghai steht sogar noch deutlich weiter hinten, auf Rang 117.
Krisengewinnerin ist Singapur. Der südostasiatische Stadtstaat schafft es nicht nur in der Rangliste auf Platz 1 – sondern profitiert dank des Exodus aus Hongkong, Shanghai und Co. auch von hoch qualifizierten Zuwanderern. Gemäss lokalen Medienberichten werden in Singapur nun sogar die Plätze an den internationalen Schulen knapp.
In China stehen Firmen derweil zusehends vor Rekrutierungsproblemen. In einer Umfrage der europäischen Handelskammer in Hongkong gaben 50 Prozent aller befragten Unternehmen an, nicht mehr genügend internationale Fachkräfte zu finden.
Kanada, Dubai, Hauptsache weg
«Hongkong muss offen sein, damit die Geschäfte hier rund laufen: Wir müssen Firmen und Touristen anziehen», sagt Gabriel Mallet, Leiter der Schweizer Handelskammer in Hongkong, gegenüber Blick.
Der Westschweizer lebt seit zehn Jahren in Hongkong. Auch er denkt immer wieder über einen Wegzug nach, besonders wegen seiner zwei Kinder, die seit Pandemiebeginn häufiger zu Hause im Fernunterricht sassen als im Klassenzimmer. «Wenn ich vor zwei Jahren gewusst hätte, was auf uns zukommt, wäre ich wahrscheinlich gegangen», erzählt Mallet am Telefon. «Aber ich hoffe, dass Hongkong in einem Jahr wieder so ist, wie es früher einmal war.»
Familie R. hat die Hoffnung praktisch aufgegeben. Im Juni geht es zwar zurück nach Hongkong – aber nur vorübergehend. «Wir müssen Verträge auflösen und brauchen noch etwas Zeit, um uns zu verabschieden», sagt Patrizia R. Danach geht es wohl nach Kanada. Oder Dubai. Der Entscheid ist noch nicht gefallen. Nur eins ist klar: weg aus China.
* Name der Redaktion bekannt