Wer gut ausgebildet ist, hat auf dem Arbeitsmarkt die Qual der Wahl: Dank Fachkräftemangel ist der Verhandlungsspielraum bei Lohn, Ferien und flexiblen Arbeitsmodellen gross. Diese Botschaft scheint bei den Leuten angekommen zu sein. Sie werden weiterbildungsmüde!
«Sie denken sich: Ich bin ja so gesucht, ich muss gar keine Weiterbildung machen, sondern kann mich ein wenig ausruhen», fasst es Matthias Rüegg (63) zusammen. Er ist Rektor der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ), der laut eigenen Angaben grössten Hochschule mit ausschliesslich berufsbegleitenden Studiengängen im Bereich Wirtschaft im Land. Das macht sich in den Zahlen bemerkbar: Im Jahr 2022 etwa absolvierten an der HWZ rund 200 Personen weniger eine CAS-, MAS- oder andere Diplom-Ausbildung als in anderen Jahren. Das entspricht einem Studierendenschwund von 10 Prozent.
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Über-50-Jährige sollen die Schulbank drücken
Auch Corona trug dazu bei: Viele wollten nach Ende der Pandemie die Ferien nachholen, statt die Schulbank zu drücken. Gleichzeitig boomte die Wirtschaft wegen Nachholeffekten, der Schweizer Arbeitsmarkt rutschte von einem Fachkräfte- gar in einen Arbeitskräftemangel. Der Sturm – respektive: die Leere – am Weiterbildungsmarkt war perfekt.
«Diese Tendenz ist gefährlich», warnt Rüegg. «Weiterbildung ist kein Sprint, sondern ein Dauerlauf: Man muss mit den Entwicklungen in der Arbeitswelt Schritt halten und am Puls der Zeit bleiben.» Gerade Über-50-Jährigen könnten Weiterbildungen helfen, arbeitsmarktfähig zu bleiben. Mit der konjunkturellen Abkühlung und ersten Entlassungswellen sind ältere Arbeitnehmende die Ersten, die dran glauben müssen. Die Altersguillotine am Schweizer Arbeitsmarkt ist mit voller Wucht zurück.
Ein Abschluss für 100'000 Franken
Wäre ihnen geholfen, wenn sie an der HWZ einen CAS für 10'000 Franken absolvieren? Das ist fraglich. «Es herrscht ein regelrechter Zertifikatewahn, laufend entstehen neue Titel und Weiterbildungsmöglichkeiten», kritisiert Heidi Joos (69), Geschäftsführerin des Verbands Avenir 50 Plus, der sich für die Interessen von älteren Erwerbslosen, Ausgesteuerten und Sozialhilfeempfängern einsetzt. «Ältere Arbeitnehmende bringen höchst selten einen dieser neuen Titel mit, was aber längst nicht heisst, dass ihnen die entsprechenden Fähigkeiten fehlen.» Nur eben das Gütesiegel in Form eines CAS, MAS oder sonstigen Zertifikats haben sie nicht.
Der Verdacht liegt nahe, dass mit den teuren Weiterbildungen Kasse gemacht wird. Für HWZ, Universität St. Gallen und andere Bildungsinstitutionen sind sie das einträglichere Geschäft als herkömmliche Bachelor- und Masterstudiengänge. Für einen MAS – einen Master of Advanced Studies, nicht zu verwechseln mit einem herkömmlichen Masterstudium – werden schnell einmal 30'000 Franken fällig. Ein MBA – ein Master of Business Administration, eine akademische Management-Ausbildung – kann je nach Hochschule gar mit über 100'000 Franken zu Buche schlagen.
Weiterbildungen gehörten in der heutigen Zeit nun mal dazu, hält HWZ-Rektor Rüegg dagegen. «Wenn jemand über 50 keinerlei Weiterbildungen vorzuweisen hat, wird ein Recruiter beunruhigt.»
Schreckgespenst Überqualifikation
Viele betroffene Über-50-Jährige bekommen bei Absagen jedoch nicht zu hören, ihnen fehlten die Weiterbildungen – ganz im Gegenteil sogar: Sie seien überqualifiziert! Könnte ein teures Weiterbildungsangebot sogar nach hinten losgehen? «Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, dieses Argument wird eher vorgeschoben, weil es netter klingt», schätzt Rüegg. «Viel wahrscheinlicher ist, dass Leute die falsche Qualifikation haben.» Denn Quereinsteiger sehen die Schweizer Arbeitgeber weiterhin ungern, Fachkräftemangel hin oder her.
Die Talsohle der Weiterbildungs-Faulheit scheint derweil durchschritten: An der HWZ nehmen die Anmeldungen seit Ende 2023 wieder zu. Besonders beliebt: der neue CAS zu AI Management. Kostenpunkt: 9500 Franken.