Kündigungswelle im Spital Einsiedeln
Jetzt packen Assistenzärzte aus

Am Spital Einsiedeln haben die Assistenzärzte kollektiv ihre Kündigung eingereicht. Das ist in dieser Grössenordnung zwar ungewöhnlich, steht aber für ein grösseres Problem: die Arbeitsbedingungen der Ärzteschaft.
Publiziert: 11.08.2022 um 00:57 Uhr
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Aktualisiert: 11.08.2022 um 07:05 Uhr
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Die Kündigungswelle am Spital Einsiedeln sorgt in der Branche für Solidarität.
Sarah Frattaroli, Aline Leutwiler und Christian Kolbe

Thomas R.* ist studierter Arzt, erprobter Chirurg – und hat mittlerweile einen Bürojob bei einer Krankenkasse. «Aufgrund der Arbeitsbedingungen hatte ich irgendwann die Schnauze voll», erzählt er Blick. Also hat er den Job als Arzt kurzerhand an den Nagel gehängt. Mit Namen will er nicht hinstehen – zu gross ist die Angst vor Repressalien, selbst nach seinem Jobwechsel.

Rund zehn Prozent aller Mediziner steigen laut früheren Zahlen des Verbands der schweizerischen Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO) frühzeitig aus dem Beruf aus. Die Assistenzärztinnen und -ärzte am Spital Einsiedeln SZ sind noch nicht beim Branchenwechsel angelangt. Frustriert sind sie aber allemal: Alle sieben Assistenzärztinnen haben geschlossen gekündigt. Sie beklagen sich über happige Überstunden und gestrichene Weiterbildungen.

Ausstempeln, weiterarbeiten

Auch Thomas R. hatte, wie die Assistenzärzte am Spital Einsiedeln, eine 50-Stunden-Woche im Vertrag. «In Wahrheit habe ich 60 bis 70 Stunden pro Woche gearbeitet.» Immerhin: R. konnte die Überstunden aufschreiben und hat sie ausgezahlt bekommen. «Pro Jahr waren es bis zu 400 Überstunden. Das entspricht zwei zusätzlichen Monaten Arbeit.»

Andere Assistenzärztinnen leisten die Überzeit gratis. Sie erzählen Blick übereinstimmend, wie Vorgesetzte sie dazu anhalten, auszustempeln und danach trotzdem weiterzuarbeiten. Unter ihnen Barbara J.* (52). Auch sie will anonym bleiben. «Mir wurde empfohlen, höchstens fünf Überstunden pro Monat aufzuschreiben, damit keine Konflikte mit den Vorgesetzten entstehen.»

Eine Umfrage des VSAO aus dem Jahr 2020 bestätigt, dass die Mehrheit der Assistenzärztinnen und -ärzte mehr als die gesetzlich vorgeschriebenen 50 Stunden pro Woche arbeiten – teilweise gratis.

Spitäler nutzen Engagement der Jungen aus

Der Spitalverband H+ betont, dass sämtliche Arbeitgeber die Pflicht hätten, ihren Mitarbeitenden genügend Erholung und Pausen zu geben. Verbandsdirektorin Anne Bütikofer (50) gibt allerdings zu, dass es im Alltag nicht immer einfach sei, Wort zu halten. «Aus den Betrieben wissen wir, dass angehende Ärztinnen und Ärzte hoch motiviert sind und auch bereit sind, ein überdurchschnittliches Engagement zu leisten. Dies darf allerdings nicht ausgenutzt werden.»

Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen verschärft die Situation zusätzlich: Wenn eine Stelle nicht neu besetzt werden kann oder jemand krank ausfällt, müssen die Verbliebenen noch mehr Überstunden leisten.

Lohn wie eine Putzkraft

Assistenzärzte verdienen in der Schweiz beim Berufseinstieg rund 7000 Franken monatlich. Kein schlechter Lohn. Doch wer 60 Stunden pro Woche arbeitet und die Überzeit nicht aufschreiben kann, landet bei einem Stundenlohn von unter 30 Franken. Vergleichbar mit einer Reinigungskraft.

Selbst wenn die Überstunden aufgeschrieben und ausbezahlt werden: Sie zehren. «Ich habe zum Teil von 6.30 bis 22 Uhr gearbeitet», erinnert sich Thomas R. Über Nacht hatte er zusätzlich Pikettdienst. Kam ein Notfall rein, musste es schnell gehen. «Man kriegt nur eine oder zwei Stunden Schlaf und operiert danach stundenlang.» Dass die Qualität darunter leidet, steht ausser Frage.

Schikane durch die Chefs

Neben den Überstunden sieht Thomas R. ein weiteres Problem: die Ausbildung. Als er nach sechs Jahren Studium im Spital angefangen habe, habe die Einführung keine fünf Minuten gedauert. «Man wird ins kalte Wasser geworfen.» Dadurch lernt man viel – macht aber auch Fehler. Sein Vorwurf: «Als Assistenzarzt ist man einfach eine billige Arbeitskraft.» Auch aus dem Umfeld des Spitals Einsiedeln heisst es, dort habe sich niemand um die Assistenzärzte gekümmert.

Andernorts in der Branche ist von streng hierarchischen Führungsstrukturen zu hören. Von Chefs, die als Assistenzärzte selber unten durch mussten – und der jüngeren Generation das Leben nun auf keinen Fall einfacher machen möchten.

Barbara J. berichtet von Diskriminierung und Schikane durch die Vorgesetzten. Besonders Menschen mit Migrationshintergrund – wie sie selber – und Schwangere seien davon betroffen gewesen.

Starkes Zeichen aus Einsiedeln

Dass die Assistenzärzte im Spital Einsiedeln auf die Barrikade gehen und geschlossen gekündigt haben, kommt bei anderen Nachwuchsmedizinern gut an. «Das war ein echt starkes Zeichen. Leute, ihr seid absolute Vorbilder!», schreibt eine Ärztin auf Twitter.

Der VSAO stellt sich ebenfalls hinter die Massenkündigung in Einsiedeln: «Die Vorwürfe der Assistenzärztinnen am Spital Einsiedeln sind aus unserer Sicht gut begründet.» Auch Thomas R. erzählt, er und seine Kollegen hätten mehrfach über eine Kollektivkündigung nachgedacht. Letztlich sei es aber immer daran gescheitert, dass nicht alle mitmachen wollten.

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Teilzeitarbeit und 42-Stunden-Woche

Für den Verband steht ausser Frage, dass sich etwas ändern muss – nicht nur in Einsiedeln, sondern in allen Spitälern. «Dienstpläne müssen sauber gemacht werden. Dabei darf nicht mit der wöchentlich zulässigen Höchstarbeitszeit geplant werden. Die Ärztinnen und Ärzte müssen ihre Arbeitszeiten korrekt und elektronisch erfassen können», fordert Verbandssprecher Philipp Thüler.

Um die Ärzteschaft zu entlasten, sollen administrative Aufgaben auf andere Angestellte überwälzt werden. «Wir sind überzeugt, dass es so möglich ist, eine 42-Stunden-Woche einzuhalten», sagt Thüler. Auch die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sowie Möglichkeiten für Teilzeitarbeit müssten geschaffen werden.

Aus heutiger Sicht sind das beinahe paradiesische Aussichten – aber machbar, wenn Spitäler und Vorgesetzte den nötigen Willen aufbringen, so der VSAO. Auch Thomas R. hofft, dereinst in seinen angestammten Beruf als Arzt zurückzukehren. «Es ist ein wunderschöner Job. Aber ich war nicht mehr dazu bereit, alles andere dafür zu opfern.»

*Namen geändert

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