Katerstimmung in der Branche
Schweizer Velopioniere verzweifeln – und hoffen auf ihren Erfindergeist

Die hiesige Velobranche geht vom Höhenflug in die Krise. Und die einstigen Pioniere gehen nun unterschiedliche Wege. Wie Flyer, Scott und Thömus auf die gesunkene Nachfrage nach Velos reagiert haben.
Publiziert: 14.04.2025 um 14:11 Uhr
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Radtour durch Mendrisio: Die Bilder von der Reise teilt man heute auch mit dem Velo-Mech.
Foto: Keystone

Darum gehts

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Tina Fischer
Handelszeitung

Weit hinten im Emmental wohnt ein Tüftler, dessen Fluch es ist, stets seiner Zeit voraus zu sein. Philippe Kohlbrenner, heute 61 Jahre alt, musste mit 30 Jahren für die Arbeit täglich dreihundert Höhenmeter bewältigen. Das fiel ihm auch mit Übung nicht leichter. Also grübelte er an einer Lösung: Er verbaute einen Scheibenwischermotor an seinem Fahrrad. So entstand im Jahr 1993 der «rote Büffel».

Kohlbrenner verfeinerte seinen Prototyp. Er gründete mit Freunden ein Start-up, fand Investoren. Im Jahr 2001 stellten sie das Modell «New Flyer» vor. Ein E-Bike, das 45 Kilometer pro Stunde erreicht. Doch die Verkäufe blieben aus. Zu sehr fokussierten sich die Gründer auf das Technische, zu wenig auf den Kunden. Das Geld ging aus, und bald darauf verkauften sie ihren Prototyp.

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals im Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.

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Die Käufer Kurt Schär und Hans Furrer lancierten das Produkt Flyer neu. Sie legten so die Basis für die gleichnamige Schweizer Erfolgsgeschichte, die jahrelang nur eine Richtung kannte: nach oben. Die Firma produzierte rund 70’000 Velos pro Jahr. Noch im Frühling 2021 nahm sie ein drittes Produktionsfliessband in Betrieb, um die Produktion auf 100’000 Stück auszubauen.

Erst der Aufstieg, ...

Nicht nur Flyer, die ganze Branche hatte Hochkonjunktur. Im Jahr 2020 wurden 171'132 Velos ausgeliefert. Doch der Höhenflug war nur temporär. Die Ausnahmezeit ist vorbei, die Absatzzahlen sind tief. Drei Jahre nach Ende der Lockdowns sinken die Verkaufszahlen noch immer, die Lager bleiben voll. Im Oktober verkündete Flyer, dass die Firma den Schweizer Standort schliesst; mehr als 150 Leute verloren den Job. Ein Scheiterhaufen, ob dem Kohlbrenner nur traurig den Kopf schütteln kann.

Flyer ist nicht die einzige Firma, die den Boom überschätzte. Das Drama um die Schweizer Vorzeigemarke Scott hallt noch immer nach. Der damalige Inhaber Beat Zaugg hatte im Jahr 2015 eine Aktienmehrheit an die südkoreanische Youngone-Gruppe verkauft. Nach neun Jahren, sinkenden Verkaufszahlen und internen Querelen knallte es am Firmensitz: Die Gruppe stellte Zaugg übers Osterwochenende 2024 vor die Tür. Doch er wollte nicht gehen. Der Streit eskalierte, am Hauptsitz tauchte gar die Polizei auf. Seither kämpft man mit Anwälten gegeneinander. Im Februar entschied das Schiedsgericht der Internationalen Handelskammer mit Sitz in Paris zugunsten von Youngone.

Im europäischen Raum erlag die Private-Equity-Firma KKR den zweirädrigen Verlockungen: Ihr Angebot für den deutschen Radhersteller Canyon, der jüngst einen Showroom in Chur eröffnete, wurde abgelehnt. Stattdessen investierte KKR im Januar 2022 1,6 Milliarden Euro in die niederländische Accell. Damals sprach man noch von der «guten Zeit»: Boomende Veloverkäufe, billiges Geld und leichter Optimismus, dass sich ein Ende der Pandemie abzeichnet.

... dann der tiefe Fall

Im Sommer dann kippte die Stimmung. Die Energiepreise stiegen, die Inflation zog an, die Zinswende startete. Und die Veloverkäufe sanken. So auch der Umsatz von Accell. KKR klopfte mehrfach bei den Aktionären an, reinvestierte Hunderte Millionen Euro – doch ein Erfolg stellt sich bis heute nicht ein. Was für KKR ein Quick Win hätte sein sollen, entpuppte sich als eines ihrer grössten Fehlinvestments.

«Während Corona erfasste die Velobranche einen Gier- und Herdentrieb», sagt Martin Platter. Der Geschäftsführer von Velosuisse kennt die Branche gut und leidet bei jedem Konkurs mit. «Es waren die gleichen Phänomene, wie man sie sonst von den Finanzkrisen kennt: Man hatte das Gefühl, es gehe immer so weiter.» Niemand habe abseitsstehen wollen. Es herrschte Goldgräberstimmung. Doch nun sind die Velos im Keller erneuert, und zwei verregnete Frühlingsjahre vermiesten den Händlern das Geschäft.

Das zeigt auch die Anzahl verkaufter Fahrräder: Im vergangenen Jahr sank die Zahl auf das Vor-Corona-Niveau. Platter spricht von einer «Konsolidierung»: Der Markt verkauft seine Lager ab, die Zahlen pendeln sich wieder ein. Mit einem grossen Unterschied: Vor der Krise machten Elektroräder einen geringeren Anteil aus, heute ist mit 45 Prozent fast jedes zweite verkaufte Velo motorisiert.

Thömus will dem Markt trotzen

Einer, der schon lange im Velogeschäft mitmischt, sieht trotzdem Chancen: der Berner Thomas Binggeli, Gründer der Velomarke Thömus. Mit dem Elektrovelohersteller Stromer gelang ihm im Jahr 2021 ein erfolgreicher Exit. Als er 2023 den SUV der E-Bikes namens Twinner lancierte, rieb sich die Velobranche die Augen: 100 Räder, sogenannte Speed-Pedelecs, ausgerüstet mit ABS-Bremsen, beheizbaren Lenkern sowie Rückfahrkamera – und dazu ein Aktienanteil –, verkaufte der Netzwerker zu je 50’000 Franken an Unternehmer, Politiker und Influencer. Das spülte Geld in die Kasse. Bei einem Besuch auf seinem Hof in Oberried erzählt Binggeli, dass er die Stückzahl vorerst noch gering halten will: «Letztes Jahr verkauften wir 300 Stück. Dieses Jahr werden es 600 sein, dann 900. Wir wollen skalieren, dafür durchlaufen wir die Lernkurve.»

«Skalieren» ist das Schlagwort von Binggeli. Im September wurde bekannt, dass er erst 12, nach Verhandlungen 13 Bike-World-Filialen, von denen sich die Migros trennen will, übernimmt. Über den Verkaufspreis herrscht Stillschweigen. Es ist die Rede vom «symbolischen Franken». Denn die Migros habe den Kauf subventioniert, so komme sie ihm unter anderem bei Liegenschaften, deren Vermieterin die Migros ist, stark entgegen.

Der Deal klingt gut, kommentieren will ihn Binggeli nicht. Doch viele in der Branche sagen: Jetzt verkalkuliert sich der Thömu. Er, der gmögige Berner, der einmal eine ganze Bikemesse kirre machte, weil er kiloweise Raclettekäse verteilte, soll nun auf relativ anonymen und grossen Flächen in Orten wie Volketswil seine Thömus-Velos verkaufen. Ein enormes Risiko. Eines, dessen sich auch Binggeli bewusst ist: «Ich bin zuversichtlich. Wir haben keinen Plan B.»

Nebst seinen Thömus-Fahrrädern hat Binggeli nun Marken wie Trek, Cube oder Woom im Angebot. Eine Konkurrenz für seine eigenen Velos? Nein, meint er. Eine Ergänzung im Angebot: Die günstigeren Bereiche decke Cube ab, im mittel- bis hochpreisigen ergänzten sich Scott, Trek und Thömus. Bei seiner eigenen Marke Thömus will er die Anzahl verkaufter Räder, es sollen rund 5000 und ein geschätzter Umsatz von 35 Millionen Franken sein, verdoppeln. Hier habe er einen Vorteil: «Wir designen, entwickeln und produzieren alle Velos im Haus und nur auf Auftrag. So vermeiden wir Zwischenhändler und Überlager.» Über alle Läden und Marken rechnet er mit einem Verkauf von bis zu 20’000 Velos. Damit würde Binggeli in der Topliga der Fachmärkte mitspielen.

Das Velo als Statussymbol

Dazu will er das Berner Erfolgsmodell in andere Städte adaptieren: In den Thömus Bike Worlds soll man sich treffen, derweil Velos bestaunen und zusammen anstossen. Das Velo ist längst mehr als nur ein Fortbewegungsmittel. Es mauserte sich zum Pendlerfahrzeug und Statussymbol. Man vergleicht gefahrene Strecken, zählt die mit dem Rad bereisten Länder auf und fachsimpelt über die Technik. Dafür geben die Leute gerne Geld aus. Darauf zielt Binggeli ab.

Nicht weit von ihm entfernt, im Emmental, lächelt Kohlbrenner ob solcher Ambitionen. Kohlbrenner, dessen Flyer nach seiner Zeit zum Erfolg wurde. Das Gleiche passierte ihm in der Medizinaltechnik: Er hatte zu Ypsomed gewechselt und Injektionspens mitentwickelt. Der Erfolg seiner Innovationen stellte sich auch dort erst später ein.

Doch Kohlbrenner hat Frieden geschlossen mit der Vergangenheit. Heute produziert er seine eigenen Velos namens Speedped. Er kennt jeden Käufer und jede Fahrerin persönlich. Wer sein Velo nach rund 100’000 Kilometern in den Service bringt, rechnet dafür Zeit ein. Während es nebenan auf Vordermann gebracht wird, zeigt man sich am langen Tisch die Bilder von der Veloreise.

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