Das Protokoll zum Produktions-Knall in Huttwil
Wie die deutsche Eigentümerin Flyer an der Nase herumführte

Die Schweizer Produktion des E-Bike-Pioniers Flyer wird ins Ausland verlagert. Knapp eine Woche nach dem Knall spricht nun erstmals Flyer-Chef Andreas Kessler. Anhand von internen Dokumenten kann Blick nachzeichnen, wie es zum überraschenden Aus gekommen ist.
Publiziert: 05.11.2024 um 10:08 Uhr
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Aktualisiert: 05.11.2024 um 14:18 Uhr
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Er sagt, er wurde überrascht vom Produktions-Aus: Flyer-Chef Andreas Kessler.
Foto: Thomas Meier

Auf einen Blick

  • Flyer-Chef Andreas Kessler wusste nichts vom Produktions-Aus
  • Deutsche Flyer-Eigentümerin verschickte Durchhalte-Parolen an Händler und Mitarbeitende
  • Über 150 Angestellte verlieren wegen dem Produktions-Aus ihren Job
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Ulrich RotzingerWirtschaftschef

Der Knall am vergangenen Mittwoch kommt für die Flyer-Angestellten aus heiterem Himmel. Damit gerechnet hat nicht einmal Flyer-Chef Kessler, wie er nun erstmals öffentlich bestätigt. «Der Entscheid zur Verlagerung ist auch für mich völlig überraschend gekommen», sagt Andreas Kessler (59) zu Blick. «Zumal der Verwaltungsrat immer bekräftigt hatte, dass am Standort Schweiz festgehalten wird.» Er könne diesen Entscheid nur akzeptieren, aber nicht weiter kommentieren.

Kessler muss die Produktion in Huttwil BE schliessen. Von den 170 Beschäftigten am Schweizer Hauptsitz verlieren die meisten ihren Job. Die Kölner Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG), seit 2017 deutsche Eigentümerin der Flyer AG, will die Huttwiler Produktionsstrassen in bestehende E-Bike-Werke im Ausland integrieren. Lediglich rund ein Dutzend Personen im Vertrieb und Engineering dürften nach der bevorstehenden Massenentlassung in der Schweiz übrig bleiben.

Zwei interne Flyer-Schreiben wiegen Produktion in Sicherheit

Der gebürtige Zürcher Kessler hat von den Eigentümern aus Köln einen Maulkorb verpasst bekommen. Dies wurde mit dem laufenden Konsultationsverfahren begründet. Deshalb wollte der Flyer-Chef nichts weiter zum plötzlichen Gesinnungswandel der ZEG sagen. Auch die Eigentümerin will sich nicht weiter äussern.

Das braucht er auch nicht, denn Blick liegen zwei interne Dokumente vor, die vom deutschen ZEG-Chef und Flyer-Verwaltungsratspräsident Georg Honkomp (63) persönlich gezeichnet sind. Anhand der beiden Schreiben, dem Blick-Besuch des Huttwiler-Flyer-Werks Anfang September 2024 und Informationen von Schweizer Velo-Händlern lässt sich ein Protokoll der letzten Wochen vor dem Ende der Produktion in der Schweiz nachzeichnen.

So liefen die vergangenen acht Wochen für die Flyer-Angestellten

11. September 2024: Flyer-Chef Kessler empfängt Blick und seinen Fotografen in Huttwil. Er führt durch die Büros, dann durch das riesige Montagewerk mit zwei Produktionstrassen. Er witzelt mit Produktionsleuten, die Stimmung ist heiter. Blick spricht Kessler auf die Massenentlassung von 80 Beschäftigten an, die im September 2023 geschah. «Das war ein harter Einschnitt, schmerzhaft für die Mitarbeitenden und mich selber auch, aber für die Betriebsgesundheit notwendig», sagt Kessler. Auch 2024 gab es 11 betriebsbedingte Kündigungen. Aber Kessler sagte: «Wir sind am tiefsten Punkt im Tal der Tränen angelangt. Die Frage ist jetzt, wie breit das Tal ist.»

Dennoch sorgten sich einzelne Produktionsangestellte, Teile der Produktion könnten in Billiglohnländer verschoben werden. Damit konfrontiert sagte Kessler: «Die Sorge ist unbegründet, die Krise ist durchgestanden. Und wir sind immer noch da, am Standort Schweiz wird festgehalten.» Er verweist auf Millionen-Investitionen in die Produktion in den letzten Jahren.

17. bis 19. September 2024: Flyer-Chef Kessler präsentiert in St. Gallen an einem Marketing-Event einer Gruppe von 16 nationalen und internationalen Fachjournalisten Flyer-Neuheiten für das kommende Jahr, darunter eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit Partner Bosch. Das Embargo für die Neuigkeiten fällt am 30. September. Nichts deutet auf das bevorstehende Flyer-Beben in Huttwil hin.

23. September 2024: ZEG-Chef und Flyer-Verwaltungsratspräsident Georg Honkomp wendet sich mit einem Schreiben an die gesamte Flyer-Belegschaft und 1200 Fachhändler in Europa, 240 in der Schweiz. «Ausblick 2025/2026» steht im Betreff. Auf zwei Seiten jeweils spricht er über die Überbestände nach Corona in der E-Bike-Branche und «fehlende Aufträge für die Jahre 2024 und 2025». Aber er versichert: «Unser Produkt steht weiter hoch in der Gunst der Endverbraucher». Er verspricht, dass ab dem Modelljahr 2026 alles wieder laufe wie geschmiert. Die Finanzierung der Flyer AG sei gesichert, notwendige Liquidität stehe zur Verfügung.

Pikant: Honkomp spricht im gleichen Atemzug von «weiteren Sparmassnahmen». Das habe auch einen Personalabbau zur Folge. Im Schreiben an die Angestellten heisst es zudem: «Weitere Lohn- und Gehaltserhöhungen können wir für 2025 nicht verkraften und zurzeit auch keine weiteren Einstellungen vornehmen». Sowohl im Schreiben an Fachhändler als auch Angestellte versichert Honkomp: «Flyer bleibt ein Schweizer Produzent. Es ist auch weiterhin unser Ziel, in der Schweiz zu produzieren.»

30. September 2024: Die Neuheiten mit der Bosch Technologie für Flyer-Bikes werden der Öffentlichkeit vorgestellt, eine Medienmitteilung geht an die Redaktionen. Gleichzeitig publiziert Blick die Reportage aus dem Flyer-Werk in Huttwil, in welcher Chef Kessler an der grössten Velo-Produktion der Schweiz festhält.

24. Oktober 2024: Das Fachmagazin Velo-Journal hat von dem Honkomp-ZEG-Schreiben an die Fachhändler gehört. Hierzu sagt Kessler dem Journal in einem Online-Interview, dass es «im September nochmals einige Entlassungen bei den Büromitarbeitenden» gab. Aber: «Made in Switzerland» gelte «natürlich» weiterhin. «Wir entwickeln in Huttwil und 100 Prozent der Assemblage findet hier statt. Unser Aktionär hält am Schweizer E-Bike-Produktionsstandort fest.»

30. Oktober 2024: Es kommt zum Knall in Huttwil. Am Mittwochvormittag erfahren die Mitarbeitenden von CEO Kessler von den Plänen der deutschen Eigentümerin. Seit diesem Tag läuft das Konsultationsverfahren. Die Produktionsverlagerung ins Ausland gilt als gesichert, ebenso die Entlassung der meisten Produktionsangestellten. Diese kommen nicht nur aus Huttwil, sondern auch aus dem Emmental, dem Oberaargau und dem Luzernischen. Zum Peak während der Corona-Pandemie arbeiteten 350 Angestellte in Huttwil, bald sind es nur noch ein paar Hände voll.

Ein düsterer November steht den Familien bevor. Die Aussichten für eine überraschende Wende zum Guten sind schlecht. Das Konsultationsverfahren läuft noch rund zwei Wochen bis in die zweite Novemberhälfte.

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