Auf einen Blick
- Karli bietet kostenlosen Haarschnitt für Bedürftige in Thun an
- Frisur steigert Selbstbewusstsein und motiviert für Arbeitssuche
- Über 30 Mitglieder im Team helfen mit Coiffeurbesuchen und Spenden
Mit geübtem Griff fährt Karin Flückiger-Stern, von allen Karli genannt, durch die Haare eines Mannes. «Noch ein bisschen kürzer?», fragt die 50-Jährige und streicht ihm sanft über die Schulter. Rolf, der 55-jähriger Mann auf dem Stuhl, nickt und schliesst die Augen.
Im Raum der Heilsarmee in Thun herrscht ein fröhliches Wirrwarr. Rund 30 Menschen sind an diesem Nachmittag gekommen, um sich von Karli und ihrem ehrenamtlichen Verein die Haare schneiden zu lassen, Kleidung und Pflegeprodukte mitzunehmen – und bei einem Schwatz und einer Berner Platte zusammenzusitzen.
Seit 2017 geht Karli ihrer Berufung, bedürftigen Menschen zu helfen, nach. Die Idee entstand, als sie mit ihrem eigenen Coiffeursalon wirtschaftlich harte Zeiten durchlebte. Sie sehnte sich nach etwas, das sie in dieser Zeit erfüllt. Die Wertschätzung der Gäste tut das allemal: Nach dem Frisieren werde man umarmt. «Ein Gast weinte sogar mal, weil er seit 23 Jahren nicht mehr beim Coiffeur war», erzählt sie.
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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«Kleider machen Leute, aber eine Frisur macht einen Menschen»
Ein Haarschnitt sei mehr als nur Kosmetik. «Es geht darum, den Menschen das Gefühl zu geben, gesehen zu werden», erklärt sie. «Ich sage immer: Kleider machen Leute, aber eine Frisur macht einen Menschen.» Sie sei die «Krone», die ein Mensch trage.
Deshalb verändern sich Haltung, Mimik und Selbstbewusstsein vieler Gäste nach einem Besuch bei den Karlis, wie die Helfenden liebevoll genannt werden. «Das zu sehen, freut uns jedes Mal aufs Neue.» Mit dem neu gewonnenen Selbstvertrauen seien viele motiviert, sich wieder für eine Arbeitsstelle zu bewerben.
Nicht nur die äussere Erscheinung, sondern auch die Seele profitiert von Karlis Dienstleistung. Manche Gäste würden während des Coiffeurbesuchs einschlafen, weil sie die Zärtlichkeiten so geniessen. «Für viele ist das hier die einzige Berührung seit Monaten.»
Engel mit Kamm und Schere
Zufrieden schaut Röfu in den Spiegel. «Die Karlis sind gute Seelen», sagt er. Jakob, ein ehemaliger Alkoholsüchtiger, der heute in einem Brockenhaus arbeitet, ergänzt: «Es gab den Pfarrer Sieber, Mutter Teresa, und jetzt ist es Karli.»
Karli selbst sieht sich nicht als Heldin oder dergleichen. Es stecke schliesslich ein ganzes Team mit über 30 Mitgliedern dahinter. «Aber wir sind sicher Herzensmenschen», sagt sie lächelnd.
Abgesehen von den kostenlosen Coiffeurbesuchen sammeln die Karlis Geld- und Materialspenden, beispielsweise Kleidung oder Lebensmittel. Die Gäste dürfen sich nach dem Umstyling bedienen.
Vor allem aber hört Karli den Leuten zu, verteilt herzliche Umarmungen. Immer nach dem Motto: «Frag nach der Geschichte, bevor du urteilst.» Ihre Gäste, besonders der 64-jährige Jakob, schätzen diese Offenheit: «Karli ist ein Engel, geschickt von oben.»