Interview zur Lage der Weltwirtschaft
«Deutschland hat in den letzten 20 Jahren viele Fehler gemacht»

Der deutsche Wirtschaftsprofessor Gunther Schnabl äussert sich im «Cash»-Interview zur Lage der Vorsorgesysteme, zu den Problemen Chinas und zur Frage, warum nicht alle Leute vom Börsenanstieg profitieren.
Publiziert: 05.08.2024 um 14:12 Uhr
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Aktualisiert: 05.08.2024 um 14:59 Uhr
Gunther Schnabl ist Professor für Wirtschaftspolitik und Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Leipzig.
Foto: ZVG
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Daniel Hügli
Cash

Herr Professor Schnabl, Sie sagen einen wirtschaftlichen Niedergang Chinas ähnlich dem Japans seit den 1990er-Jahren voraus. Die USA müssten sich nicht mehr davor fürchten, dass China ihnen dereinst den Rang als weltweit grösste Volkswirtschaft den Rang ablaufen wird?
Gunther Schnabl:
Die Frage ist, ob die USA wirklich jemals Angst vor China hatten. Der Boom, den wir lange Zeit in China erlebt haben, wurde ab der Jahrtausendwende durch starke Kapitalzuflüsse aus Japan und den USA getrieben, nachdem dort die Zentralbanken die Zinsen stark gesenkt hatten. Das hat zu Übertreibungen geführt. Zu viele Investitionen haben Überkapazitäten in der Industrie geschaffen und es ist eine riesige Blase auf dem Immobilienmarkt entstanden. Ähnliches konnte man in Japan zwischen 1985 und 1989 beobachten, nachdem die Bank of Japan die Zinsen stark gesenkt hatte.

Wie wird sich China entwickeln?
Das wird davon abhängen, wie China reagiert. China könnte wie Japan versuchen, die Probleme mit billigem Geld beziehungsweise mit Kreditvergabe durch das staatlich kontrollierte Bankensystem zuzudecken. Dann würden die Überkapazitäten nicht bereinigt und dauerhaft niedrige Zinsen würden das Wachstum lähmen. Der Wohlstand, den China erreicht hat, würde ähnlich wie in Japan langsam wieder verfallen.

Wird das nicht zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung führen – etwas, das die kommunistische Regierung am meisten fürchtet?
Richtig. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz in China, wonach die Bevölkerung keine demokratischen Mitbestimmungsrechte einfordert, solange die Wirtschaft gut läuft und es den Menschen besser geht. Stagniert die Wirtschaft oder sinkt der Wohlstand, dann werden die Menschen unruhig. Doch wir wissen auch, dass eine totalitäre Regierung Mittel und Wege hat, die Bevölkerung in Schach zu halten.

Artikel von «Cash.ch»

Dieser Artikel wurde erstmals auf «Cash.ch» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.cash.ch.

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Steigt das Risiko, dass China, analog zu Russland, kriegerische Aktivitäten beginnen könnte, um von Missständen im eigenen Land abzulenken?
Das ist der sogenannte «Rally-'round-the-Flag-Effekt: Politische Entscheidungsträger können Rückhalt durch die Bevölkerung erzwingen, indem sie einen Konflikt mit einem anderen Land anstrengen. Dies ist eine mögliche Erklärung für den Ukraine-Krieg, von dem Wladimir Putin innenpolitisch profitiert hat. Wir wollen nicht hoffen, dass das auch für China zutrifft. Die Führung müsste sich eigentlich bewusst sein, dass militärische und wirtschaftliche Stärke eng miteinander verbunden sind. Um eine schlagkräftige Armee zu finanzieren, braucht man auch eine schlagkräftige Wirtschaft und hoch entwickelte Finanzmärkte. Bei beiden Faktoren haben die USA mehr denn je die Nase weit vorn.

Der Dollar wird als Weltleitwährung noch lange Zeit Bestand haben?
So würde ich das sehen. Es gibt derzeit keine andere Fiat-Währung, die den Leitwährungsstatus des Dollars herausfordern kann. Das liegt auch daran, dass eine internationale Leitwährung immer mit hochentwickelten Finanzmärkten hinterlegt sein muss. Denn wer Fremdwährungsreserven hält, will diese auch gut investieren. Hochentwickelte Finanzmärkte gibt es in China nicht, weil diese nicht frei sind.

Der europäische Markt wird überschwemmt von chinesischen Billigartikeln, welche im Westen ganze Branchen bedrohen. Die Solarindustrie ist ein Beispiel. Firmen aus dieser Branche fordern nun staatliche Subventionen als Schutz. Ist das der richtige Weg?
Exportsubventionen sind sehr teuer. Wenn man bedenkt, dass China am Anfang einer langen Krise steht, dann wird es sich auf Dauer Subventionen für ausländische Konsumenten nicht leisten können. Ich würde deshalb davor abraten, im Westen diese Industrien ebenfalls zu subventionieren. Ein Subventionswettlauf verzerrt den Wettbewerb und schadet dem Wohlstand. Ich würde darauf hoffen, dass sich die betroffenen Unternehmen durch Umstrukturierungen und Spezialisierung anpassen können.

Sie haben ein Buch geschrieben mit dem etwas knalligen Titel «Deutschlands fette Jahre sind vorbei». Wollen Sie den Leuten Angst machen?
Keineswegs. Ich will ein Bewusstsein für wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen schaffen und eine Alternative aufzeigen. Eine sorgfältige Diagnose ist immer die Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. In den letzten 20 Jahren wurden in Deutschland viele Fehler gemacht. Es hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass Wohlstand eine Art Verteilungsmasse ist, mit dem man alle möglichen Probleme lösen kann. Langsam setzt sich in der Bevölkerung aber die Einsicht durch, dass es so nicht weitergehen kann. Weshalb? Die Menschen verstehen, dass die Politiker in Berlin und Brüssel den Wohlstand nicht retten, sondern gefährden.

Sie nennen die platzende Immobilienblase und die zerberstende Exportblase in Deutschland. Dafür kann die derzeitige Regierung aber weitgehend nichts.
So ist es. Es war Angela Merkel, die sich mehr und mehr von wichtigen marktwirtschaftlichen Prinzipien verabschiedet hat. Allen voran von der Geldwertstabilität, aber auch vom Wettbewerb, freien Preisen, dem Haftungsprinzip und der Vertragsfreiheit. Die damit verbundenen Wohlstandsverluste konnten wegen einiger Sondereffekte über längere Zeit hinweg verborgen werden. Hauptsächlich dank des Booms in China und der dauerhaft niedrigen Zinsen der Europäischen Zentralbank, die die Unternehmen subventioniert und eine Immobilienblase befeuert haben, was das Wachstum aufrechterhalten hat. Ein weiterer Sondereffekt war die Öffnung der Pipeline Nord Stream 1, mit der durch eine risikoreiche Ausrichtung der Energieversorgung auf Russland der Industrie unter die Arme gegriffen wurde. Schliesslich haben die sehr umfangreichen Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank dem deutschen Staat grosse neue Ausgabenspielräume eröffnet. Dieser hat die finanzpolitischen Flitterwochen dazu genutzt, die Sozialausgaben auszuweiten, die Regulierung voranzutreiben und viele neue unproduktive Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Sektor zu schaffen. Nachdem die Europäische Zentralbank die Geldpolitik gestrafft hat, ist plötzlich kein Geld mehr da.

Die Inflationsraten sind auch in Europa überraschend schnell gesunken. Trotzdem warnen Sie vor dauerhaften Inflationsraten von 4 bis 6 Prozent. Warum?
Die Faktoren, welche die Inflation im Euroraum angetrieben haben, sind nur teilweise beseitigt. Wir hatten seit 2022 zwar eine geldpolitische Straffung am kurzen Ende der Zinsstrukturkurve durch steigende Leitzinsen. Aber die EZB hat lange Zeit auch in grossem Umfang Staatsanleihen, Unternehmensanleihen und Bankanleihen gekauft, was die langfristigen Zinsen gedrückt hat. Am langen Ende der Zinsstrukturkurve hat eine geldpolitische Straffung bisher kaum stattgefunden. Es gibt deshalb weiterhin einen starken Liquiditätsüberhang im Bankensektor, der inflationstreibend sein kann, wenn die Konjunktur wieder anspringt. Inflation beschränkt sich aus meiner Sicht auch nicht auf den offiziellen Konsumentenpreisindex. Ich sehe auch inflationäre Tendenzen, wenn die Immobilien-, Gold- oder Aktienpreise stark steigen, was zuletzt wieder der Fall war.

Was ist falsch an steigenden Aktienpreisen? Nicht nur viele Privatanleger, auch die meisten Pensionskassen sind in Aktien investiert. Davon profitieren doch alle?
Leider nicht alle. Die Vermögenswerte sind ungleich über die Bevölkerung verteilt. Aktien und Immobilien konzentrieren sich auf hohe Einkommensschichten, während die Mittelschicht traditionell in Form von Bankeinlagen spart. Das Sparbuch hat sich zu Zeiten der stabilen Deutschen Mark gelohnt. Doch wir haben in Deutschland keine stabile Währung mehr. Viele Jahre lagen die Zinsen bei null, weshalb bei moderaten Inflationsraten die Bankeneinlagen wie Bargeld real entwertet wurden. Bei steigenden Vermögenspreisen wurde von der Mittelschicht zu hohen Einkommensschichten umverteilt. Die Mittelschichten in Europa können sich heute kaum mehr Wohneigentum leisten, weil die Europäische Zentralbank mit niedrigen Zinsen die Preise nach oben getrieben hat.

In der Schweiz wurde in einer Volksabstimmung überraschend deutlich einer 13. staatlichen Altersrente zugestimmt. Wie beurteilen Sie das?
Das hat mich überrascht. Die Schweiz ist mein Lieblingsland, weil sie meist eine liberale Politik betreibt. Wenn ich mir heute die Nationalität aussuchen könnte, dann wäre ich lieber Schweizer (lacht). Die Menschen in der Schweiz denken wohl auch wegen den Volksabstimmungen strukturierter über Probleme nach und gelangen dadurch zu besseren Ergebnissen. Die 13. Monatsrente geht jedoch zu Lasten der jungen Generation, was angesichts der ohnehin bereits geringen Geburtenraten riskant ist. Die Entscheidung könnte damit zusammenhängen, dass die ältere Generation in einer alternden Gesellschaft ein immer grösseres politisches Gewicht hat.

Verliert die junge Generation nicht langsam das Vertrauen in die Vorsorgesysteme?
Da würde ich nicht widersprechen. In allen Industrieländern lässt die Politik die Interessen der jungen Generation ausser Acht. In der Generation meiner Eltern konnte noch ein Ehepartner die Familie ernähren. Das hat es viel leichter gemacht, eine Familie zu gründen. Heute müssen oft beide Partner arbeiten, um den Lebensstandard, den sie von ihren Eltern kennen, halten zu können. Das trägt zur negativen Demografie bei und bringt umlagefinanzierte Rentensysteme in Schieflage. Ich warte immer noch auf die politischen Entscheidungsträger, die das Thema endlich aufgreifen. Immerhin ist die Jugend unsere Zukunft.

Wie kann man heute Wohlstand schaffen?!
Wir müssen zurück zu marktwirtschaftlichen Prinzipien. Und das Rückgrat einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist eine stabile Währung. Mit der Wirtschafts- und Währungsreform des Jahres 1948 wurde in Deutschland zwar nicht direkt Wohlstand geschaffen, aber die Grundlage dafür, dass Wohlstand entstehen konnte. Es ging für alle Teile der Gesellschaft aufwärts, so dass eine grosse Mittelschicht entstehen konnte, die heute unter der Abkehr von den marktwirtschaftlichen Prinzipien leidet.

Was haben Sie persönlich für eine Einstellung gegenüber Kryptowährungen?
Sie benutzen den Begriff Kryptowährungen. Doch jede Kryptowährung ist anders. Um in die eine oder andere Kryptowährung zu investieren, müsste ich jede einzelne erst einmal verstehen. Ein Dogecoin funktioniert anders als Bitcoin.

Dann machen wirs einfacher: Wie ist Ihre Einstellung zu Bitcoin?
Als Professor für Volkswirtschaftslehre habe ich ein starkes Interesse an Geld, Geldsystemen und Geldpolitik. Aus diesem Blick sehe ich Bitcoin nicht nur als stabile Alternative zu Papierwährungen, sondern auch als Restriktion für dauerhaft expansive Geldpolitiken. Wenn das Vertrauen in das Weltwährungssystem verloren geht, in dessen Zentrum immer noch der Dollar und der Euro stehen, dann wird man nach Alternativen suchen. Das kann Gold sein, aber die Transaktionskosten von Gold sind vergleichsweise hoch. Bitcoin hat ähnlich wie Gold ein glaubwürdiges Versprechen, dass die Menge nicht erhöht werden kann. Zugleich sind die Transaktionskosten geringer. Wenn der Euro und Dollar immer mehr an Wert verlieren, können die Menschen ihre Ersparnisse in Bitcoin tauschen, um deren Wert zu erhalten. So wird eine zu expansive Geldpolitik der grossen Zentralbanken sanktioniert und damit der Schuldensucht der Regierungen Grenzen gesetzt.

Kryptowährungen haben immer noch ein Kriminalitäts-Image. Als Wertaufbewahrungsmittel wird Bitcoin daher wohl auch in Zukunft kaum dienen.
Das Kriminalitätsargument zählt für mich nicht. Die Mafia zahlt auch in Dollar oder Euros. Trotzdem werden Dollar und Euro nicht verboten. Bitcoin ist aus meiner Sicht derzeit in erster Linie ein Wertaufbewahrungsmittel. Wer den Glauben in die Papierwährungen verliert, und das passiert meiner Meinung nach seit mehr als 20 Jahren, der sucht man nach wertstabilen Alternativen. Das können Gold, Immobilien oder Aktien sein, aber eben auch Bitcoin. Ich kann zwar heute noch nicht mit Bitcoin in allen Geschäften bezahlen, weshalb die Zahlungsfunktion noch beschränkt ist. Aber das kann sich in einer Hochinflationsphase sehr schnell ändern. Dann könnten die Bitcoins oder Satoshis schnell von Smartphone zu Smartphone den Besitzer wechseln.

Gunther Schnabl ist Professor für Wirtschaftspolitik und Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Leipzig. Er leitet dort das Institut für Wirtschaftspolitik. Einer von Schnabls Forschungsschwerpunkten ist die internationale Geld- und Währungspolitik. Schnabl hat an den Universitäten Tübingen und Stanford (USA) promoviert und habilitiert. Er war Gastwissenschaftler bei Zentralbanken tätig und auch als Advisor bei der Europäischen Zentralbank tätig. Schnabl, der auch Senior Advisor am Flossbach von Storch Research Institute ist, gehört im Ökonomenranking der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zu Deutschlands einflussreichsten Ökonomen. 


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