cash.ch: Trotz schwierigem Marktumfeld - Zinsanstieg und konjunkturellem Gegenwind - bewegen sich die weltweiten Börsen in der Tendenz aufwärts. Insbesondere der Nasdaq, aber auch der Dax zeigen mit deutlichen Kursgewinnen Stärke. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Marc Possa: Es ist nach wie vor sehr viel Geld im System. Wenig Arbeitslose und gute Börsengewinne der letzten Jahre führen zu mehr verfügbarem Einkommen, das dann auch investiert sein will. Dazu ist man bezüglich der Inflation weniger besorgt. Man hat das Gefühl, dass sie bald besiegt sein sollte.
Trotzdem erscheint das aktuelle Marktumfeld anspruchsvoll …
Es ist anspruchsvoll, weil man aus dreijährigen Marktverzerrungen brutalster Art kommt: Covid, wo man über Nacht alles zumacht. Lieferkettenprobleme, die sich durch den Ukraine-Krieg und die geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China akzentuiert haben. Und schlussendlich die Rückverlagerung der Produktion in den Westen. Das alles hat für Verwerfungen gesorgt.
Dieser Artikel wurde erstmals auf «Cash.ch» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.cash.ch.
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Was sind die Konsequenzen?
Der Markt wurde ausser Kraft gesetzt. Doch gerade Marktkräfte, die gegeneinander wirken, führen zu einer Robustheit. Wenn politische Impulse dominieren, mündet dies wie aktuell im Chaos. Dazu kommen Verwerfungen bei Währungen, die auch ein Resultat von guter oder schlechter Politik sind. Die Deutschen tun mir diesbezüglich leid.
Warum?
Deutschland hat 20 Jahre von einer zu billigen Währung profitiert. Das macht träge. Wenn es zu einfach geht, beginnt man Fehler zu machen. Die Politik bekommt Zulauf von der falschen Richtung, und der Leidensdruck der Jungen ist nicht mehr vorhanden. Wenn man nur noch Rechte, aber keine Pflichten mehr hat und alles einfach so funktioniert, entstehen Begehrlichkeiten, die nicht gut sind.
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Die Jungen sind nicht mehr wettbewerbsfähig?
Der Mensch ist ein Krisenwesen. Er braucht Druck, dann performt er. Wenn er es zu lange nicht hat, kommt der Schlendrian. Heute schreit jeder bei einer aufkommenden Krise nach dem Staat oder der Nationalbank. Doch nur durch das Aussitzen kommt etwas Besseres hervor. Denn die Natur sagt, was überlebt, ist besser und fähiger für die Zukunft.
Sie fordern mehr Realpolitik?
Man braucht ein System mit marktwirtschaftlichen Prinzipien und sozialen Leitplanken. Letztere dürfen einfach nicht so hoch sein, so dass sich niemand mehr in die Arbeit einbringen will.
Wie ordnen Sie diesbezüglich die Schweiz ein?
Auch die Schweiz ist der Gefahr ausgesetzt, prozyklisch zu agieren. Im Sommer muss man den Vorrat für den Winter anlegen.
Was halten Sie von der Meinung, dass die Notenbanken schon bald die Zinsen wieder senken werden?
Dies ist eine Illusion. Das werden sie nicht können, weil die Inflation hartnäckiger über Zweitrundeneffekte im System verankert bleibt. Es braucht entsprechend etwas mehr Leidensdruck, der dann auch zu mehr Arbeitswilligkeit führen wird, was dann den salärbedingten Druck reduzieren wird.
Was können Anleger am Aktienmarkt in den kommenden Monaten erwarten?
Das zweite Halbjahr 2023 wird sicherlich volatiler werden, angeführt von der US-Börse. In Dollar hat ein amerikanischer Investor mit Investments in der Schweiz eine sehr eindrückliche Performance realisiert und könnte geneigt sein, gewisse Gewinne mitzunehmen. Es sind ja nicht Schweizer Pensionskassen, die den Markt bei uns zum Steigen oder Fallen bringen. Es sind ausländische Investoren wie BlackRock, die den Takt vorgeben.
Wo verorten Sie die grössten Marktrisiken?
Die grössten Risiken sind dort, wo der Markt aufgrund aller politisch motivierten Verzerrungen sehr lange nicht mehr gespielt hat. Dies hat auch in der EU oder der Schweiz zu sogenannten Zombieunternehmen geführt, die in einem normalen Umfeld keine Legitimation haben. Diese an sich gesunde Bereinigung wird sich allmählich einstellen und die schlecht positionierten, schlecht finanzierten Gesellschaften eliminieren. Dies sollte dann auch zu mehr Robustheit führen.
Welche Unternehmen bieten Anlegerinnen und Anleger Chancen?
Anleger sollten immer nur in die besten Gesellschaften investieren, die über die Zeit dann auch die besten Aktien sind. Kurzfristige Trends zu spielen, schafft systematisch eh niemand. Deshalb lieber von Anfang an langfristig denken und agieren. Höhere Zinsen lassen sich bekanntlich von den guten Unternehmen weitergeben. Gute Unternehmen haben in der Regel wenig bis keine Schulden und sind somit fast immun gegenüber höherer Zinsen.
Was sind weitere Eigenschaften, die ein gutes Unternehmen auszeichnen?
Diejenigen Unternehmen mit hoher Marktführerschaft können organisch wachsen. 'The winner takes it all' gilt in einer technologisch komplexeren Welt umso mehr. Am Beispiel von Bachem sieht man dies exemplarisch. Trotz der Volatilität und der hohen Bewertung steigen die Aktien nachhaltig. Gleiches gilt für Yposmed.
Trotz der unsicheren Marktlage haben Sie zuletzt bei Skan und Dottikon aufgestockt. Was zeichnet diese Unternehmen aus?
Beide sind sehr unternehmerisch geführt und verfügen deshalb auch über ein sehr grosses, strukturelles Wachstum. Beide profitieren von der aktuellen Produktionsrückverlagerung in den Westen, beziehungsweise vom Trend hin zu injektierbaren Wirkstoffen beziehungsweise Medikamenten, die bei der Abfüllung sterilisiert werden. In diesem Sinne sind beide Marktführer und bieten ihren Kunden enormen Mehrwert, der ja dann auch bezahlt wird.
Sehen Sie im Industrie-Bereich Aktien, die bisher noch etwas vernachlässigt wurden, aber eigentlich Potenzial haben?
Da gibt es beispielsweise eine Klingelnberg, welche total unter dem Radar ist.
Zu ihren Top-Positionen gehören Bachem, Also, Lem, Sika und Bell. Wo sehen Sie kurzfristig das grösste Kurspotenzial?
Kurzfristig kann ich das nicht seriös beurteilen. Alle aufgeführten Gesellschaften sind hervorragend geführt und positioniert, alle verfügen über starkes strukturelles Wachstum. Allenfalls laufen die defensiveren Bell Aktien kurzfristig besser als Bachem oder LEM.
Wie beurteilen Sie gerade das Zahlenset von Bell vom Donnerstag?
Bell hat Zahlen über den Erwartungen gebracht. Man muss aber vielmehr verstehen, dass das Ökosystem mit dem Hauptaktionär Coop genial ist. Wenn es Coop nicht gäbe, wäre ich nicht in diesem Ausmass hier investiert. Denn Coop garantiert Bell den Absatz, die Preise und damit die Marge. Wegen des reduzierten ‹Free float› haben viele diese Aktie aber gar nicht auf dem Radar, leider. Der Titel ist zudem wegen der Konstanz langweilig.
Langweilig ist ja nicht gleich schlecht?
Nein, im Gegenteil. Langweilig ist meistens extrem gut. Darin liegt oftmals eine gewisse Stabilität und Stärke. Man kann nicht nur die Bachems haben, die beflügelt werden.
Was halten Sie von einem Investment in Meyer Burger?
In Meyer Burger hat es im Moment grosse Short-Positionen. Die Aktie polarisiert wie keine andere. Bis wir Gewissheit haben, ob die neue Strategie wirklich aufgeht, wird noch viel Zeit vergehen. Wir waren Teil der Rekapitalisierung bei 9 Rappen und sehen aufgrund der vielen Treiber - eigene westliche Solarindustrie oder grüne Energie - enormen Rückenwind. Man darf dabei nicht vergessen: Meyer Burger hat über die letzten 25 Jahren die Solarindustrie entwickelt, dies als grosser Innovator. Nun machen sie es nur noch für sich selbst, das kann eigentlich gar nicht schief gehen.
Würden Sie auf dem aktuellen Kursniveau noch investieren?
Wenn ich keine hätte, würde ich eine Schwächephase für Zukäufe nutzen.
Wo haben Sie zuletzt Verkäufe getätigt?
Ich habe keine Verkäufe getätigt, weil ich mit einem Cash-Bestand von ungefähr 8,5 Prozent eher investieren sollte.
Bei welchen Unternehmen würden Sie aktuell Anlegerinnen und Anlegern von einem Investment abraten?
Grundsätzlich bei allen schlecht geführten Gesellschaften, wo die Interessensangleichung zwischen Aktionär und Management nicht gegeben ist. Für mich sind DocMorris und Dufry so Kandidaten. Wenn bei Dufry die Geschäftsleitungsmitglieder substanzielle Aktionäre gewesen wären, hätten sie nie in dieser Aggressivität so viel Leverage aufgebaut.
Wie beurteilen Sie ein Investment bei der UBS, nachdem diese die Krisenbank CS übernommen hat?
Ich weiss nicht, ob sich die Kultur der UBS so sehr von der Credit Suisse unterscheidet. Auch erstere hat 625 Risk-Taker gehabt, die ein Risiko auf dem Rücken des Aktionärs eingegangen sind. Den möglichen Gewinn streichen sie dann in Form eines Bonus ein. Ich würde nie in Geschäftsmodelle investieren, welche nicht über Alleinstellungsmerkmale verfügen oder die Asymmetrie der Interessen so eklatant sind.
Die Asymmetrie der Interessen ist bei Banken eklatant?
Ich habe viel lieber unternehmerisch geprägte Ansätze. Magdalena Martullo-Blocher bei der Ems-Chemie wird jeden Franken, den sie ausgibt, dreimal umdrehen. Sie schaut für mich, weil sie auch für sich schaut. Dies steht im Gegensatz zur Credit Suisse, wo Verwaltungsratspräsident Urs Rohner immer seine viereinhalb Millionen Franken pro Jahr als Verdienst hatte, egal wie gewirtschaftet wurde.
Was bedeutet es für die Schweiz, dass es mit der UBS nur noch eine Grossbank gibt?
Viele Industriekunden begrüssten in der Vergangenheit das kompetitive Element zwischen den beiden Grossbanken. Heute gesunden die Banken dadurch, dass sie dem Sparer keinen fairen Zins zahlen und von den Unternehmen einen höheren Risikoaufschlag auf Kredite verlangen. Wenn man nur noch einen Monopolisten wie bei der Schweizer Post hat, ist dies gefährlich und nicht gesund.
Sie sind bekannt als Fondsmanager, der sein Portfolio nicht gerne umschichtet. Warum diese Einstellung?
Was heute gut ist, sollte morgen noch besser sein, ganz unabhängig des Preises. Zu Viele Umschichtungen sind nur im Interesse der Finanzindustrie, die Volatilität als Geschäftsmodell hat.
Was widerspricht aber dem Value-Ansatz von Warren Buffett…
Ich glaube nicht an den Value-Ansatz à la Graham oder Buffett. Dieser besagt, dass man einen Franken für 50 Rappen bekommt. Aber manchmal sind auch 50 Rappen zu viel, wenn das Geschäft erodiert, weil die Technologie ersetzt wird oder sich das politische Umfeld verändert. Ich zahle lieber mehr für eine Gesellschaft und habe dafür einen unangefochtenen Innovationsführer mit hohem Marktanteil wie VAT im Portfolio.
Was macht die Kunst des Investierens aus?
Neben der nötigen Geduld und Langfristigkeit vermutlich der Wille, bei schlechten Gesellschaften Nein zu sagen. Ebenso sollte man nicht Trends hinterherrennen, sondern auf Unternehmen mit Burggraben setzen. Bis zu 50 Prozent der möglichen Performance verlieren viele Anleger laut Studien mit Timing-Versuchen.
Marc Possa ist Fondsmanager und CEO der VV Vermögensverwaltung in Zug. Er ist seit zehn Jahren für das Portfoliomanagement des mehrfach ausgezeichneten Small- und Mid-Caps-Fonds «SaraSelect» verantwortlich. Früher war Possa sechs Jahre lang für die Credit Suisse First Bostоn tätig und wechselte danach zur Deutschen Bank, wo er das Investment Banking in der Schweiz mitaufbaute. Anschliessend folgten drei Jahre bei Lombard Odier Darier Hentsch als Verantwortlicher für den Schweizer Aktienverkauf an institutionelle Investoren. Später übernahm Possa die Anlageverantwortung für Teile des Eigenkapitals der Zürcher Kantonalbank.