Vor 15 Jahren war Andermatt, direkt am Oberalppass im Kanton Uri, noch ein Bergdorf in der Krise. Die Schweizer Armee hatte ihre Gotthard-Festung längst aufgegeben. Andermatt dümpelte in der Bedeutungslosigkeit.
Heute ist Andermatt eine Tourismus-Destination mit internationaler Strahlkraft. Am Ursprung dieses Wandels steht der ägyptische Investor Samih Sawiris (64). Seit 2009 investiert der Milliardär mit seiner Firma Andermatt Swiss Alps in den touristischen Ausbau der Region. Mehr als 1,2 Milliarden Franken hat er bereits in sein Megaprojekt gesteckt.
Mehrere von Sawiris' Hotels und Ferienwohnungsanlagen in Andermatt sind bereits in Betrieb – darunter das edle Fünf-Sterne-Hotel Chedi. Dutzende weitere Projekte befinden sich noch im Bau.
Alteingesessene gegen Neuzuzüger
Die Veränderungen im Bergdorf sind augenscheinlich, prägen die brandneuen Luxusbauten doch das Ortsbild. Die Veränderungen gehen aber über das Bauliche hinaus: Die Investitionen haben Andermatt eine neue Perspektive gegeben.
Doch es ist nicht alles eitel Sonnenschein: Die touristische Entwicklung hat auch dazu geführt, dass die Immobilienpreise explodiert sind. Dass immer mehr Menschen zuziehen, etwa solche, die in den neuen Hotels arbeiten. Das Konfliktpotenzial mit der alteingesessenen Dorfbevölkerung ist gross.
Die Hochschule Luzern (HSLU) hat die Chancen, Risiken und Herausforderungen der massiven Entwicklung Andermatts wissenschaftlich untersucht. Seit 2009 führt sie diverse Studien durch – nun liegt der Abschlussbericht vor.
Das Fazit: Die Bevölkerung ist vom rapiden Wachstum verunsichert. «Etliche Einwohnerinnen und Einwohner befürchten eine Verdrängung der einheimischen Bevölkerung», wird Studienleiterin Beatrice Durrer Eggerschwiler in einer Mitteilung zitiert.
Dorf wurde zweigeteilt
Samih Sawiris' Megaprojekt hat Andermatt zweigeteilt, so die Luzerner Forscher. Und zwar räumlich: in den alten Dorfkern und in das Feriendorf Andermatt Reuss. Diese räumliche Abgrenzung könnte sich laut der Studienautorin auch auf die gesellschaftliche Ebene übertragen.
So sind heute denn auch ganz andere Leute in Andermatt unterwegs als noch vor 15 Jahren. In Interviews im Rahmen der Untersuchung bemängeln Einwohnerinnen und Einwohner, dass auf der Strasse immer mehr Exklusivtouristen zu sehen sind. Das nährt die Angst, dass in Andermatt eine Parallelwelt entsteht.
Auch auf dem Immobilienmarkt ist der Wandel durch Sawiris' Riesenprojekt offensichtlich: Die Preise für Einfamilienhäuser sind seit dem Start des Projekts um 270 bis 500 Prozent regelrecht explodiert. Zwar gehen die Immobilienpreise gesamtschweizerisch nach oben – allerdings im selben Zeitraum nur um 44 Prozent. Auch auf die Mietwohnungspreise im Dorf schlägt sich das nieder. Sie sind um rund 50 Prozent gestiegen.
«Überschwemmung» durch Skitouristen
Auch «Overtourism» ist ein Thema. Die Bevölkerung moniert in der HSLU-Studie «chaotische Zustände» am Wochenende und spricht von einer «Überschwemmung» durch Skitouristen. Doch gerade am Beispiel des Skigebiets zeigt sich, dass der Tourismus auch grosse Vorteile für die alteingesessene Bevölkerung mitbringt. Die Mehrheit der Befragten gibt zu Protokoll, dass die Erweiterung und Modernisierung des Skigebiets eine gute Sache sei. Die Leute sehen das Skigebiet «als Hoffnungsträger für den wirtschaftlichen Aufschwung», heisst es in der Studie.
Die Andermatter sind ausserdem glücklich über das neue Schwimmbad, die vielen Wander- und Bikewege und das ausgebaute Kultur- und Freizeitangebot. Der Andermatter Gemeindepräsident Hans Regli (CVP) sieht die Entwicklung unter dem Strich denn auch positiv: «Nicht nur das Tourismusresort entwickelt sich, sondern auch im alten Dorfteil sind zahlreiche Sanierungsprojekte entstanden. Es konnten Arbeitsplätze gesichert und zusätzliche Lehrstellen geschaffen werden.»
Gemeinde erlebt Geldschwemme
Das schlägt sich auch im Portemonnaie der Gemeinde nieder: Die Steuereinnahmen haben sich innert zehn Jahren fast verdoppelt. Das ist einerseits dem wirtschaftlichen Boom geschuldet. Andererseits hängt es mit dem Bevölkerungswachstum zusammen. Lebten 2009 noch 1260 Menschen im Dorf, waren es zuletzt 1410 – ein Anstieg von elf Prozent.
Auch die Zahl der Logiernächte hat sich auf eindrückliche Art und Weise entwickelt: 2009 betrug sie noch 73'000. 2019, also im letzten Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie, waren es 129'000.
Die Luzerner Forschergruppe kommt in ihrem Abschlussbericht zum Schluss, dass die Andermatter Bevölkerung unter dem Strich mehr Vor- als Nachteile in der touristischen Entwicklung sieht. «Wenn wir es verstehen, die neu geschaffenen Ressourcen mit Weitsicht zu nutzen, kann dies für Andermatt eine grosse Chance für die Zukunft sein», wird die Einwohnerin Karin Christen in der Studie zitiert.
Damit die weitere Entwicklung Andermatts gelingt, damit Tourismus und traditionelles Dorfleben Hand in Hand gehen können, machen die Forscherinnen den Verantwortlichen in Andermatt verschiedene Vorschläge. Sie regen zum Beispiel Kennenlern-Apéros an, damit Neuzuzüger mit Alteingesessenen in Kontakt kommen. Auch Sprachkurse für ausländische Tourismus-Angestellte könnten hilfreich sein.