Greenwashing oder Ökologie?
Eine grüne Oase für die gutverdienende Elite

Der Trend der begrünten Wohnhäuser ist auch in der Schweiz angekommen. Ist es nur Ästhetik und Luxus oder auch eine realistische Zukunftsvision für die Architektur?
Publiziert: 21.10.2023 um 16:51 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2024 um 08:38 Uhr
Da stand es noch im Bau: Das Gartenhochhaus Aglaya in Rotkreuz ZG.
Foto: Christian Herbert Hildebrand
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Lena Madonna
Handelszeitung

Mit regenkalten Fingern tippt Philipp Hodel den Namen Heidy Schumpf auf dem Bildschirm ein. Über ihm ragt der grüne Wohnhausriese namens Aglaya in den behangenen Himmel der Gemeinde Risch-Rotkreuz. Ein Klingeln ist zu hören und über den Bildschirm meldet sich eine weibliche Stimme. «Philipp, bist du das? Ich lasse dich rauf.»

Das Gespräch bricht ab und die Sprechanlage verkündet die Nummer des Liftes, der den Mitarbeiter des Unternehmens Zug Estates, das das Aglaya in Auftrag gegeben hat, in den vierzehnten Stock bringt. Mitten in die moderne Zwei-Zimmer-Wohnung der pensionierten Heidy Schumpf, welche von 15’000 Pflanzen umgeben ist.

11 Arten Bäume, 52 Arten Stauden, 19 Arten Sträucher und weitere Pflanzenarten gedeihen und schlingen sich um die Fassade des 70 Meter hohen Wohnhauses im Kanton Zug. Dabei tun sie dem Klima etwas Gutes. Denn die Pflanzen reinigen die Luft von CO2. Zusätzlich wirkt die weitläufige grüne Fassade als Isolation gegen die Hitze im Sommer.

Oase für die Reichen

«Hier oben ist es sehr ruhig und die Luft ist extrem frisch», erzählt Eigentümerin Heidy Schumpf und sieht sich in ihrer kleinen Wohnung um, deren Fenster gedämpftes grünliches Licht hereinlassen. Für ihre Oase hat Schumpf viel bezahlt. Die Wohnungspreise in der Aglaya lagen zwischen 600'000 und 2'700'000 Franken. Die teuerste und grösste ist eine 5,5-Zimmer-Wohnung.

Dass grüne Wohnhäuser für die gutverdienende Elite gebaut werden, ist keine Seltenheit. 200 km südlich von Rotkreuz, in Mailand, ragt ein anderer begrünter – ebenso teurer – Gebäudekomplex in die Höhe. Es ist das erste Hochhaus der Welt, das sich mit dem Konzept der Begrünung auseinandersetzte: der Bosco Verticale – der vertikale Wald.

Hundert Meter an prallem, elektrisierendem Immergrün. Schon von weitem ist das Meisterwerk des italienischen Architekten Stefano Boeri sichtbar. Als der «Vertikale Wald» 2014 fertiggestellt wurde, zierten Fotos des Gebäudekomplexes die Titelseiten auf der ganzen Welt. Stefano Boeri erlangte durch das Projekt nicht nur internationale Bekanntheit, sein Bau startete zeitgleich eine mitreissende grüne Welle in der Architektur.

Der Architekt und Idealist

Nach langem Hin und Her findet Boeri in seinem Terminkalender eine halbe Stunde Zeit. Als sich das Telefon mit Italien in Verbindung setzt, ist zuerst nur Rauschen zu hören. Dann erklingt die abgehackte Stimme von Boeri. «Als wir den Bosco Verticale gebaut haben, schenkten wir Pflanzen eine Aufmerksamkeit, die normalerweise in unserem Beruf nicht vorkommt.»

Er spricht davon, dass er Pflanzen wie Mieter behandelt. Und wie wichtig ihm die Erhaltung der Biodiversität ist. Wie gut seine Türme für das Klima sind. Und wie viele Türme er bereits gebaut hat und wie viele er plant. Er merkt an, dass bald in Lausanne ein weiteres seiner Werke entstehen wird. Mit riesigen Loggien statt Balkonen und einer herrlichen Sicht auf den Genfersee.

Stefano Boeri, Architekt des Bosco Verticale
Foto: Stefano Boeri Architetti

«Wünschen Sie sich denn ganzheitliche grüne Städte, Herr Boeri?» Die Frage unterbricht den Architekten in seinem Redefluss. «Natürlich!», ruft er enthusiastisch ins Telefon. «Und wie soll das gehen, wenn Sie begrünte Wohnhäuser so teuer bauen?» Darauf wird es still. Er denkt nach.

Bestreben nach günstigerem Wohnraum

«Der Prototyp in Mailand war ziemlich teuer. Es war das erste Mal, dass ein Gebäude mit Bäumen in 100 oder 120 Metern Höhe gebaut wurde», erklärt Boeri. Sein Team und er hätten viel Geld und Zeit in die Forschung gesteckt, um herauszufinden, welche Pflanzen sich für ein Hochhaus in dieser Klimazone anbieten. Am Ende betrugen die Baukosten mehr oder weniger 2700 Franken pro Quadratmeter.

«Unmittelbar nach dem Bau des Bosco Verticale haben wir damit begonnen, zu untersuchen, wie diese Gebäude für alle gebaut werden können», erzählt Boeri weiter. So kostete etwa ein Sozialwohnungsbau mit einem vertikalen Wald in Holland noch 1500 Franken pro Quadratmeter.

Und während der Stararchitekt weiter Türme baut und mit seinem Team in Italien daran feilt, günstigeren Wohnraum bieten zu können, sitzt in einem Büro in Zürich ein anderer Architekt. Es ist Raphael Schmid, der das teure Aglaya gebaut hat.

Zu Besuch

An die Fenster des Kleinraumbüros in Zürich prallen Hagelkörner. Das Architekturbüro Ramser Schmid Architekten ist gerade erst kürzlich umgezogen, am Eingang hängt statt einem Klingelschild noch ein bedrucktes Blatt Papier im Plastikmäppli. Trotzdem ist das Büro schon mit Skizzen und Büromaterial vollgestopft. Im Sitzungszimmer brennt warmes Licht. Raphael Schmid, der Chef, zupft sich sein Jeanshemd zurecht. «Herr Schmid, wollen Sie mir erzählen, wie alles begonnen hat?»

2015 gewann Ramser Schmid Architekten den Wettbewerb für das begrünte Hochhaus, das einmal das Aglaya werden sollte. Zu dieser Zeit hatte der Bosco Verticale bereits grosses internationales Ansehen. «Wir sagten also der Bauherrschaft: Ach, Sie wollen etwas wie den Bosco Verticale? Diese Frage gefiel ihr dann nicht so gut», erzählt Raphael Schmid.

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals im kostenpflichtigen Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Blick+-Nutzer haben exklusiv Zugriff im Rahmen ihres Abonnements. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.

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Also begann Schmid sich andere Inspiration zu suchen und fand sie beim österreichischen Architekten Richard Neutra, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA Gebäude baute.

«Er kreierte die Illusion, dass der Innenraum draussen ist und der Aussenraum drinnen ist», erzählt Schmid begeistert. Er klappt seinen Laptop auf, tippt etwas ein und dreht den Bildschirm um. Darauf zu sehen sind Fotografien des Aglaya und der üppigen Pflanzen.

«Das Aglaya wurde für ein bestimmtes Mietersegment gebaut. Begrünen hätte man auch günstiger können», sagt er. Philipp Hodel von Zug Estates sagt: «Es wäre möglich gewesen, ein günstigeres Gebäude als das Aglaya zu bauen. Wir haben uns aber dagegen entschieden. Denn: Wir wollten ein Leuchtturmprojekt.»

Eher grau als grün

Die ersten Skizzen dessen, was einmal ein grüner Riese werden sollte, entstanden in Schmids Büro. Doch das Grün liess beim Bau auf sich warten – Am Anfang standen Tonnen um Tonnen an Beton auf dem kargen Bauland.

Aus dem Baustoff entstanden das Grundgerüst des Wohnhauses und die Tröge für die 15’000 Pflanzen. Das Ganze sollte spektakulär und gross werden. Zug Estates investierte satte 100 Millionen Franken.

Die Landschaftsarchitekten wählten für jede Himmelsrichtung andere Pflanzen – so, dass diese optimal zu den Wetterbedingungen passten. Auf dem gesamten Suurstoffi-Areal, auf dem auch das Aglaya steht, wurden 300 Erdsondenfelder in 300 Meter Tiefe positioniert und Solarzellen auf den Dächern installiert. Ein grüner Mantel vom Keller bis zum Dachgeschoss.

«Das mag vielleicht wie eine Floskel klingen, doch das ökologische Bauen ist auf dem Suurstoffi-Areal mit dem Aglaya in unserer DNA», meint Philipp Hodel von Zug Estates. Für das Unternehmen ist das Aglaya ein Vorzeigeprojekt und eine Positionierung für den ökologischen Bau. Doch geht dabei nicht die graue Energie vergessen, die in den Bau gesteckt wurde? Und die 8000 Liter Wasser, die mühsam jeden Tag vom Keller hochgepumpt werden, um die Pflanzen zu giessen?

Auf Anfrage schreibt Luzian Franzini, Vize-Präsident der Grünen Schweiz und Mitglied des Zuger Kantonsrats: «Es ist aus meiner Sicht nicht ökologisch, wenn ohne Not ein solcher Mehraufwand bei Statik, Bewässerung und Pflege für Bäume an der Fassade betrieben wird. Bäume lassen sich in Rotkreuz auch konventionell pflanzen und würden somit weniger Boden versiegeln.»

Für die Partei der Grünen war bei der damaligen Diskussion rund um den Bebauungsplan jedoch nicht die Fassade des Aglaya das Hauptthema, sondern dass die Siedlung als Wärmeverbund mittels Erdspeicher geheizt wird und dass bezahlbarer Wohnraum vorhanden ist. «Dieses Ziel haben wir nicht erreicht», sagt Franzini.

Leere Versprechen von Klimaneutralität

In 70 Meter Höhe stehen Philipp Hodel und Heidy Schumpf auf der Terrasse des grünen Riesen. Im Sommer gibt es auf dem Dach Grillpartys und Nachbar-Treffen. Hodel streckt die Hand aus und zeigt in die Ferne. «Unglaubliche Aussicht, oder?», sagt er.

Philipp Hodel von Zug Estates
Foto: Lena Madonna

Als er an den linken Rand tritt, schirmt er mit seinen Armen den Blick auf acht stahlgraue Treibstofftanks der Armee ab, die in der grünen Landschaft etwas fehlplatziert wirken. «Ich würde in diese Richtung fotografieren», bittet er. «Da drüben ist der Zugersee zu sehen, der ist viel schöner!»

Gross steht auf der Website, dass Zug Estates seit Projektstart auf fremde Energiezufuhr verzichtet und CO2-Neutralität anstrebt. Mit dieser Aussage überspielen sie das offensichtliche Graue, das sich unter dem Grünen versteckt. «Die Kalkulation, die man machen muss, ist: Rechtfertigt der ökologische Mehrwert die graue Energie, die beim Bauen reingesteckt wurde?», sagt Raphael Schmid.

Schaut man die graue Energie als massgebendes Element an, kann beim Aglaya nicht von einem ökologischen Projekt gesprochen werden. Auch wenn die Bestrebungen zu einer nachhaltigen Energiezufuhr durchaus bestehen.

Grüne Städte ade?

Architekt Raphael Schmid arbeitet gerade an einem neuen Projekt, das aussen begrünt werden soll. Zusätzlich zur preiswerteren Herangehensweise gibt es einen grossen Unterschied zum Aglaya: Für die Begrünung verwendet der Architekt nicht 15’000 verschiedene Pflanzen, sondern beschränkt sich auf eine kleinere Auswahl an Kletterpflanzen.

Einen Knackpunkt gibt es: Kletterpflanzen wachsen nur 15 Meter in die Höhe. Somit ist nicht das ganze Gebäude begrünt. Kann es also den Zweck eines Aglaya oder eines Bosco Verticale gar nicht erfüllen?

«Im Grunde brauchen die Gebäude gar keine komplett begrünte Fassade, um dem Klima gutzutun», sagt Schmid, «in einer Höhe von über 15 Meter hat es viel Wind. Die Hitzeminderung in den oberen Etagen ist also eigentlich ein weniger dringliches Thema.» Viel wichtiger sei der untere Bereich, wo die versiegelten Böden Wärme abstrahlen. Auch was den Wasserverbrauch angeht, sind Kletterpflanzen sehr viel genügsamer: Ihnen reicht Regenwasser, um zu überleben.

Blick in die Zukunft

Begrünung muss also nicht zwingend teuer und extrem ressourcenzehrend sein, wie Raphael Schmid aufzeigt. Und Städte wie Zürich springen auf die grüne Welle auf und unterstützen Begrünungsprojekte bereits mit Subventionen.

Auch wenn es der Traum von manchen Architekten ist, Leuchttürme wie den Bosco Verticale und das Aglaya zu bauen und damit zu brillieren – ganze Städte voller immergrüner Wohnhäuser wird es wohl nie geben.

«Wir haben in den letzten Jahrhunderten Städte ohne Bäume, ohne Pflanzen und ohne Grün gebaut. Das wird sich auch nicht ändern. Doch das ist kein Grund, es nicht zu versuchen», sagt Architekt Stefano Boeri.

Das idyllische Ende

So sitzen sie in ihren Büros – in Italien, in Zürich, in Rotkreuz – und denken über die Zukunft nach. Wird sie grau oder grün? Oder beides zusammen?

Inzwischen giesst Heidy Schumpf auf dem Balkon ihrer kleinen Wohnung pinke Blumen, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Der Pflegevertrag verbietet ihr, etwas in den Trögen zu pflanzen. Die fliegenden Gärtner, die sie zweimal im Jahr besuchen und sich die Fassade herunterseilen, haben es ihr aber erlaubt. «Ich habe eben ein Händchen dafür», sagt sie. Sie hatte früher selber einen grossen Garten.

So geniesst sie ihre teure Oase, die wohl eine solche bleiben wird – ein Ökotopia für Wohlhabende und grossdenkende Architekten.

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