Wenn Peter V. Kunz (57) früher die Raiffeisen in Interviews kritisierte, schickten ihm Kleinsparer jedes Mal stapelweise handgeschriebene Briefe: Er solle ihre sympathische Bank bloss in Ruhe lassen. Bemängelte der Professor für Wirtschaftsrecht hingegen andere Banken, blieb der Briefkasten immer leer.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Raiffeisen eine Erfolgsgeschichte. Das genossenschaftliche Modell erschuf einst der deutsche Sozialreformer Wilhelm Raiffeisen, um armen Bauern zu helfen. Rasch sprach sich diese gemeinschaftliche Geschäftsform herum, in der Schweiz entstand die erste Raiffeisenkasse 1899 in Bichelsee TG auf Initiative eines Pfarrers. Heute gibt es weltweit eine halbe Milliarde Raiffeisen-Genossenschafter. In der Schweiz hat die Bank vier Millionen Kunden, die Hälfte davon Genossenschafter.
Jahrzehnte galt die Raiffeisen in der Schweiz als volksnahe Bank mit eigenständigen Ablegern in allen Dörfern. 1985 gab es 1229 Genossenschaften. Peter V. Kunz, aufgewachsen in Dulliken SO, erinnert sich, wie seine Eltern jedes Jahr die Generalversammlung ihrer Raiffeisenkasse besuchten. Die landesweit über 1000 GV in Turn- und Mehrzweckhallen mit Auftritten von Sängerinnen oder Komikern sowie einem währschaften Essen waren Höhepunkte im Dorfleben.
Als Banker in der Finanzkrise plötzlich als Abzocker und Halbkriminelle galten, behielt die Raiffeisen den Ruf als «die gute Bank». Dazu passte auch der damalige CEO Pierin Vincenz, ein charmanter Bündner mit Ferienhaus im Tessin, der statt Englisch die Landessprachen spricht.
Die Raiffeisen steht für die Schweiz im Kleinen: föderalistisch organisiert, bodenständige Werte, jeder kann an der GV abstimmen. Die «Raiffeisen-Familie», wie sich die Bank selbst nennt, gibt jährlich Millionen aus, um Skirennen und Trikots von lokalen Sportvereinen zu sponsern.
Eine Bank wie jede andere
Doch unter Vincenz sei die Bank wirtschaftlich wie jede andere geworden, sagt Professor Kunz. Sie expandierte, wurde 2014 als drittgrösste Bank der Schweiz als systemrelevant eingestuft, 2020 betrug der Gewinn 900 Millionen Franken. «Das ist kein Wohlfahrtsunternehmen, sie wollen Gewinn machen, und das ist auch richtig so», sagt Kunz. Schliesslich müsse die Raiffeisen nun die gleichen Voraussetzungen erfüllen wie jede Grossbank. «Als Genossenschaft hat sie ein besseres Image, aber dieses ist zu gut für die Realität», sagt er. Die Medienstelle der Raiffeisen widerspricht und schreibt auf Anfrage, das genossenschaftliche Modell mit einer Stimme für jeden Mitbesitzer mache die Raiffeisen weiterhin einzigartig.
Die Affäre Vincenz brachte den Ruf ins Wanken. Gegenüber Blick bezeichnen Raiffeisen-Kunden den Skandal als «beschämend», «fast nicht zu verstehen», sie hätten «keine Worte dafür».
Trotzdem bleibt die halbe Schweiz und jeder dritte KMU-Betrieb ein Kunde der Raiffeisen. Die Zahl der Kunden ist auch in den vergangenen Jahren gestiegen. Einerseits seien Schweizer Bankkunden träge, sagt Professor Kunz. Die meisten kündigten das Konto erst, wenn sie Angst vor einem Konkurs hätten. Andererseits gelte Raiffeisen immer noch als sympathischer als UBS und Credit Suisse.
Und es mag auch damit zu tun haben, dass viele zwischen der Zentrale in St. Gallen und ihrer lokalen Raiffeisen unterscheiden. «Die Raiffeisen ist genossenschaftlich, wir sind hier verwurzelt und daher hat das mit Vincenz nicht viel zu tun», sagt etwa Kunde Franz Bucheli (69) aus Hünenberg ZG.
Ob die Erfolgsgeschichte von Raiffeisen in 20 Jahren weitergeht, bezweifelt Peter V. Kunz. Durch Fusionen als Sparmassnahmen existieren immer weniger lokale Ableger. Heute gibt es noch 219 Genossenschaften und 823 Standorte. «Wenn die Kunden nicht mehr in die GV im Dorf spazieren können, verliert die Raiffeisen ihre Seele», sagt Kunz. Die Digitalisierung bedroht das Modell der regionalen Verwurzelung: Junge Menschen brauchen physische Banken nicht mehr. Vielleicht ist für die Raiffeisen die jüngere, digitale Generation langfristig das grössere Problem als die Affäre rund um ihren früheren Chef.