Expertin Stefanie Becker warnt
«Demenz wird unsere Gesellschaft verändern wie keine andere Krankheit»

Stefanie Becker, Ärztin und Geschäftsleiterin von Alzheimer Schweiz, über die Akzeptanz von Demenz in der Schweiz und warum Angehörige Unterstützung brauchen.
Publiziert: 20.01.2020 um 19:27 Uhr
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Aktualisiert: 28.10.2020 um 16:16 Uhr
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Stefanie Becker, Ärztin und Geschäftsleiterin von Alzheimer Schweiz: «Wir müssen besser informieren, aufzeigen, wie sich die Betroffenen und Angehörigen selber helfen können.»
Foto: Zvg
Sven Zaugg

In der Schweiz leben 154'700 Menschen mit der Diagnose Demenz. Jährlich erkranken 29'500 Personen. Eine Kostenstudie von Alzheimer Schweiz kommt zum Schluss, dass Demenz in der Schweiz heute geschätzte Gesamtkosten von 11,8 Milliarden Franken jährlich verursacht. Knapp die Hälfte davon wird von den Angehörigen getragen. Bis 2040 rechnet Alzheimer Schweiz in seiner soeben veröffentlichten Prognose mit knapp 300'000 Betroffenen. Stefanie Becker, Ärztin und Geschäftsleiterin von Alzheimer Schweiz, sagt: «Demenz wird unsere Gesellschaft verändern und herausfordern wie keine andere Krankheit.» Heilung ist nicht in Sicht.

BLICK: Frau Becker, eine frühe Diagnose ermöglicht schnelleres Eingreifen und spart wertvolle Zeit. Wie weit ist die Medizin in der Früherkennung?
Stefanie Becker:
Demenz zu diagnostizieren, ist äusserst komplex. Bei manchen Stoffwechselerkrankungen oder bei Depression treten ähnliche Symptome auf. Grundsätzlich haben wir bei der Früherkennung grosse Fortschritte gemacht. Biomarker können das Vorliegen der Eiweissstoffe, die vor allem im Zusammenhang mit der Alzheimer-Demenz stehen, bereits Jahre vor den typischen Demenzsymptomen anzeigen.

Solche Abklärungen werden jedoch nur in klinischen Studien gemacht. Wie sieht der Normalfall aus?
Dazu wird der neurologische, psychiatrische und internistische Zustand der Patienten untersucht. Für die genaue Diagnose einer Demenz werden psychologische Tests, Laboruntersuchungen und bildgebende Verfahren durchgeführt.

Noch immer wird Demenz in unserer Gesellschaft tabuisiert. Weshalb?
Tatsächlich ist die Akzeptanz gering. Lange blendete die Medizin aus, dass Vergesslichkeit nicht einfach etwas Normales beim Altern ist, sondern eine Krankheit, die einen Namen hat. Viele Hausärzte tun sich noch heute schwer, die Diagnose Demenz zu stellen.

Was muss sich ändern?
Es braucht mehr Aufklärung – bei den Hausärzten genauso wie in der Gesellschaft. Wir müssen besser informieren, aufzeigen, wie sich die Betroffenen und Angehörigen selber helfen können. Behörden, Krankenkassen und Leistungserbringer müssen an einem Strang ziehen. Die Anzahl der Demenzerkrankungen wird durch die Alterung der Gesellschaft nochmals zunehmen. Wenn die Akteure nicht besser zusammenarbeiten, wird die Schweiz grosse Probleme haben, den Betreuungsaufwand zu schultern.

Demenz und Alzheimer

Demenz ist ein Überbegriff für zahlreiche chronisch-fortschreitende Gehirnerkrankungen, die vor allem, aber nicht ausschliesslich, das Erinnerungsvermögen beeinträchtigen. Sie führen schleichend zum Verlust der Selbständigkeit. Heute sind über hundert solche Krankheiten bekannt, die meisten treten aber nur sehr selten auf. Die Alzheimerkrankheit ist mit über der Hälfte aller diagnostizierten Fälle die häufigste Form der Demenz, gefolgt von der vaskulären Demenz. Oft liegen Mischformen vor, besonders im höheren Alter. Das grösste Risiko, an einer Demenz zu erkranken, ist das Alter. Doch nicht jede Gedächtnisstörung ist eine beginnende Demenz. Sven Zaugg

Demenz ist ein Überbegriff für zahlreiche chronisch-fortschreitende Gehirnerkrankungen, die vor allem, aber nicht ausschliesslich, das Erinnerungsvermögen beeinträchtigen. Sie führen schleichend zum Verlust der Selbständigkeit. Heute sind über hundert solche Krankheiten bekannt, die meisten treten aber nur sehr selten auf. Die Alzheimerkrankheit ist mit über der Hälfte aller diagnostizierten Fälle die häufigste Form der Demenz, gefolgt von der vaskulären Demenz. Oft liegen Mischformen vor, besonders im höheren Alter. Das grösste Risiko, an einer Demenz zu erkranken, ist das Alter. Doch nicht jede Gedächtnisstörung ist eine beginnende Demenz. Sven Zaugg

Und in finanzieller Hinsicht?
Damit Betroffene rasch passende Unterstützung erhalten, müssen professionelle Beratung und vor allem Betreuungsleistungen als krankheitsbedingte Notwendigkeit bezahlt werden. Ferner müssen Behörden die Antragsverfahren für Hilflosenentschädigung, Ergänzungsleistungen oder Invalidenrente vereinfachen und vor allem verkürzen.

Viele Angehörige, die ein Familienmitglied betreuen, sind dabei administrativ und emotional überfordert.
Angehörige leisten einen grossen Teil der unbezahlten Betreuungs- und Pflegearbeit. In der Schweiz sind das heute nach unseren Schätzungen jährlich rund 5,5 Milliarden Franken. Angehörige benötigen entsprechend Unterstützung und Entlastung – im Alltag sowie finanziell.

Wie können Angehörige entlastet werden?
Direkt nach der Diagnose brauchen Betroffene und ihre Angehörigen rasch eine auf ihre persönliche Situation zugeschnittene, krankheitsspezifische und endlich bezahlte Beratung. So lassen sich Gesundheitskosten vermeiden, die entstehen, wenn Angehörige versuchen, Betreuung und Unterstützung allein zu bewältigen. Denn sie riskieren mit dieser fordernden Aufgabe, selbst zu erkranken.

Gleichzeitig scheiden Betroffene aus dem Arbeitsleben.
Auch hier: Unternehmen müssen umdenken. Betroffenen andere Aufgaben übertragen, um sie so lange wie möglich im Arbeitsleben zu halten. Wir dürfen Menschen, die an Demenz erkranken, nicht verstecken. Sie sind wertvolle Mitglieder unserer Gesellschaft, dem sollten wir Rechnung tragen.

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