Beat Vogel kämpft gegen Demenz
«Leben, solange ich noch kann»

In der Schweiz leben über 150'000 Menschen mit der Diagnose Demenz. Einer davon ist Beat Vogel. Der 60-jährige Luzerner spricht mit BLICK über seinen Alltag mit der unheilbaren Krankheit.
Publiziert: 19.01.2020 um 23:44 Uhr
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Aktualisiert: 20.01.2020 um 17:27 Uhr
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Autofahren darf der Beat Vogel nicht mehr, die Finanzen erledigt der Schwiegersohn, an Kochen ist nicht zu denken, beim Einkaufen vergisst er die Hälfte. Diagnose: frontotemporale Demenz.
Foto: Peter Geber
Sven Zaugg

Auf den Schock folgte die Erleichterung. Als die Ärzte bei Beat Vogel vor knapp fünf Jahren Alzheimer diagnostizierten, fiel dem heute 60-jährigen Luzerner ein Stein vom Herzen. Endlich hatte seine Vergesslichkeit einen Grund, seine Krankheit einen Namen: frontotemporale Demenz (FTD), auch Morbus Pick genannt. Von nun an sollte sich Vogel nicht mehr verstecken oder mit Notlügen durchs Leben schlagen müssen.

Gleichwohl ist die Angst vor dem geistigen und körperlichen Verfall Vogels steter Begleiter. Der Verlauf von Morbus Pick ist dramatisch: Stück für Stück sterben Vogels Nervenzellen im Stirn- und Schläfenbereich ab. Von hier aus werden unter anderem Emotionen und Sozialverhalten kontrolliert. In den kommenden Monaten und Jahren wird sich sein Charakter, sein Wesen allmählich verändern.

Wenn das Denken schwerfällt

Im Durchschnitt erhält alle 18 Minuten ein Mensch in der Schweiz die Diagnose Demenz. Die Liste der Symptome ist lang. Aggression, Wutausbrüche, Unruhe, sexuelle Enthemmung, Vernachlässigung der persönlichen Hygiene. Abstraktes Denken wird Vogel zunehmend schwerfallen, seine Sprache wird er irgendwann fast komplett verlieren. «Ich weiss, was mir blüht», sagt Vogel.

Autofahren darf Vogel nicht mehr, die Finanzen erledigt der Schwiegersohn, an Kochen ist nicht zu denken, beim Einkaufen vergisst er die Hälfte. Wenn er einlädt, bereiten er und seine Freunde das Essen gemeinsam zu. Was ihm bleibt? «Das Wandern mit dem Hund. Das lass ich mir nicht nehmen», sagt Vogel. Im Moment noch. Vogel gehört zu den jungen Erkrankten. Seine Demenz befindet sich im Anfangsstadium und wird sich allmählich verschlimmern.

Aktuell leben 154'700 Menschen mit Demenz in der Schweiz. Rund die Hälfte ohne Diagnose. Die häufigste Form der Demenzerkrankungen ist die Alzheimerdemenz. Jährlich erkranken 29'500 Personen – über 7400 Menschen vor dem 65. Lebensjahr. Jede zehnte Person an Morbus Pick. So wie Beat Vogel.

Stand der Forschung: Erster Wirkstoff vor Zulassung

Noch immer wartet die Menschheit auf ein potentes Medikament gegen Alzheimer. Doch etliche Rückschläge haben die Hoffnung schwinden lassen. Im Zeitraum zwischen 2002 und 2012 lag die Misserfolgsquote von Arzneimitteln gegen Alzheimer, die schon an Patienten getestet wurden, bei 99,6 Prozent, wie eine wissenschaftliche Erhebung zeigt. Seit 18 Jahren ist kein neues Medikament gegen Alzheimer auf den Markt gekommen. Viele Pharmaunternehmen haben der Alzheimerforschung den Rücken gekehrt.

Im Frühjahr 2019 hat das Pharmaunternehmen Biogen schliesslich zwei Studien zum vielversprechenden Wirkstoff Aducanumab wegen ausbleibender Erfolge abgebrochen. Nun soll das Medikament im Januar doch noch zur Zulassung bei der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA eingereicht werden. Biogen teilte im Oktober mit, dass der Wirkstoff in einer höheren Dosierung doch den Verlust von Gedächtnisleistung, Orientierung und Sprachvermögen von Alzheimer-Patienten verlangsamt habe.

Dies hätten weitere Analysen einer grösseren Datenmenge ergeben. In diese Analysen wurden mehr Patienten eingeschlossen, die über einen längeren Zeitraum eine hohe Wirkstoffdosis erhalten hatten. «Die neuen Daten geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Eine zuverlässige Beurteilung der Angaben von Biogen kann aber erst erfolgen, wenn die Daten aus den klinischen Versuchen mit Aducanumab vollständig vorliegen», sagt Alzheimer-Spezialist Prof. Dr. Sascha Weggen von der Universität Düsseldorf.

Sollte Aducanumab zugelassen werden, wäre das der erste Wirkstoff, der an einer der möglichen Ursachen der Alzheimer-Krankheit ansetzt. Bislang gibt es keine Medikamente, die auf die grundlegenden Mechanismen der Erkrankung einwirken. Biogen strebt die Zulassung von Aducanumab auch in Europa an. Sven Zaugg

Tau-Proteine sind für die Stabilität und die Nährstoffversorgung der Zellen verantwortlich. Bei der Alzheimer-Erkrankung wird das Tau-Protein chemisch verändert. Dieses veränderte Protein sammelt sich in der Nervenzelle und lagert sich in Form von Fasern an, den sogenannten Tau-Fibrillen. Die Zellen verlieren ihre Form, ihre Funktionen und zerfallen.

Noch immer wartet die Menschheit auf ein potentes Medikament gegen Alzheimer. Doch etliche Rückschläge haben die Hoffnung schwinden lassen. Im Zeitraum zwischen 2002 und 2012 lag die Misserfolgsquote von Arzneimitteln gegen Alzheimer, die schon an Patienten getestet wurden, bei 99,6 Prozent, wie eine wissenschaftliche Erhebung zeigt. Seit 18 Jahren ist kein neues Medikament gegen Alzheimer auf den Markt gekommen. Viele Pharmaunternehmen haben der Alzheimerforschung den Rücken gekehrt.

Im Frühjahr 2019 hat das Pharmaunternehmen Biogen schliesslich zwei Studien zum vielversprechenden Wirkstoff Aducanumab wegen ausbleibender Erfolge abgebrochen. Nun soll das Medikament im Januar doch noch zur Zulassung bei der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA eingereicht werden. Biogen teilte im Oktober mit, dass der Wirkstoff in einer höheren Dosierung doch den Verlust von Gedächtnisleistung, Orientierung und Sprachvermögen von Alzheimer-Patienten verlangsamt habe.

Dies hätten weitere Analysen einer grösseren Datenmenge ergeben. In diese Analysen wurden mehr Patienten eingeschlossen, die über einen längeren Zeitraum eine hohe Wirkstoffdosis erhalten hatten. «Die neuen Daten geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Eine zuverlässige Beurteilung der Angaben von Biogen kann aber erst erfolgen, wenn die Daten aus den klinischen Versuchen mit Aducanumab vollständig vorliegen», sagt Alzheimer-Spezialist Prof. Dr. Sascha Weggen von der Universität Düsseldorf.

Sollte Aducanumab zugelassen werden, wäre das der erste Wirkstoff, der an einer der möglichen Ursachen der Alzheimer-Krankheit ansetzt. Bislang gibt es keine Medikamente, die auf die grundlegenden Mechanismen der Erkrankung einwirken. Biogen strebt die Zulassung von Aducanumab auch in Europa an. Sven Zaugg

Das Vergessen gehört zum Alltag

Bis zur Diagnose mogelte sich Vogel jahrelang mit Stichwortlisten, geschrieben auf bunten Post-its, durch den Arbeitsalltag. Als Leiter Infrastruktur an der Pädagogischen Hochschule Luzern, verantwortlich für zwölf Liegenschaften und ein sattes Budget, war Vogel stets auf Trab. Bis es nicht mehr ging, bis er sich eingestand, «mit mir stimmt etwas nicht».

«Nach einem Telefonat wusste ich oft nicht mehr, wer überhaupt angerufen hatte», sagt Vogel. So könne man nicht mehr arbeiten. Auch im privaten Umfeld war man ob Vogels Zerstreutheit irritiert. «‹Papa, aber wo fährst du denn nur hin?›, fragte meine Tochter einmal.» – «Ich war perplex, sagte, dass ich es selbst nicht mehr wisse», erzählt Vogel.

Heute gehöre das Vergessen zu seinem Alltag. Vogel weiss sich zu helfen – noch. Er fotografiert mit seinem Smartphone Bahnhöfe, Fahrpläne, den Heimweg, macht sich Notizen, wann er wo sein muss und vor allem, wie er dahin kommt. Eine App hilft ihm, sich an seine Termine zu erinnern, zeigt an, wo er sich gerade befindet. «So wissen meine Angehörigen immer, wo ich bin.»

Kosten der Demenz

Ist dieses Leben noch lebenswert? «Ich kenne Betroffene, die sich gleich nach der Diagnose bei Exit gemeldet haben», sagt Vogel. Selbstmord? «Für mich ist das nichts. Ich will leben, solange ich kann.» Eine Kostenstudie von Alzheimer Schweiz kommt zum Schluss, dass Demenz in der Schweiz heute geschätzte Gesamtkosten von 11,8 Milliarden Franken jährlich verursacht. Knapp die Hälfte der Gesamtkosten wird von den Angehörigen getragen. Bis 2040 rechnet Alzheimer Schweiz in seiner soeben veröffentlichten Prognose mit knapp 300'000 Betroffenen.

Vogel lächelt, sagt von sich selbst, er sei im Reinen mit sich, dass er die Diagnose angenommen habe. Für seine zwei Töchter, für seine geschiedene Frau, ja seine ganze Familie sei es viel schwieriger gewesen, seine Krankheit zu akzeptieren. «Natürlich», sagt Vogel, «eine Handvoll Menschen hat sich von mir abgewandt. Ich bin ja schliesslich auch eine Belastung.» Und Heilung ist nicht in Sicht.

Trotz neuer Erkenntnisse und Fortschritte der Alzheimerforschung blieb die Suche nach Therapien, die den Ausbruch der unheilbaren Demenzerkrankung verhindern oder das Fortschreiten verlangsamen, bislang ohne Erfolg.

Behörden schauen weg

Es sei wichtig, dass die Familien unterstützt würden. Dem sei bisher viel zu wenig Beachtung geschenkt worden. «Irgendwann wird die Betreuung eines dementen Menschen zu einem 24-Stunden-Job. Da läuft jeder unweigerlich in ein Burn-out», befürchtet Vogel.

Darüber hinaus müssen Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen für einen grossen Teil der Betreuungskosten immer noch selber aufkommen. «Da läuft etwas gewaltig schief. Die Behörden haben zu lange weggeschaut», sagt Vogel. Jetzt könne er noch reden und sich starkmachen für jene, die es nicht mehr können. Wie lange noch, das weiss Vogel nicht.

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