Auf einen Blick
Bis Frühling 2023 war er Migros-Chef, jetzt leitet Fabrice Zumbrunnen den börsenkotierten Schweizer Spital- und Hotelkonzern Aevis Victoria. Im Interview erklärt der Romand, wie sein neues Krankenkassenmodell funktioniert, was an der Hotelfront läuft und warum er nichts mehr zur Migros sagen will. Fast nichts.
Herr Zumbrunnen, wie geht es Ihnen heute?
Fabrice Zumbrunnen: Danke, sehr gut.
Keine Herbstgrippe, kein Halskratzen, kein Schnupfen im Anzug?
Nichts dergleichen, merci.
Dieser Artikel wurde erstmals im kostenpflichtigen Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Blick+-Nutzer haben exklusiv Zugriff im Rahmen ihres Abonnements. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.
Dieser Artikel wurde erstmals im kostenpflichtigen Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Blick+-Nutzer haben exklusiv Zugriff im Rahmen ihres Abonnements. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.
Wenn sich doch Symptome melden sollten: Gehen Sie dann in die Apotheke, zum Hausarzt oder zu Doktor Google?
Bei kleinen Sachen ist für mich die Apotheke die erste Adresse. Bei etwas Grösserem würde ich zum Hausarzt gehen.
Und ab wann konsultieren Sie Doktor Google?
Gar nie! Wenn man dort seine Krankheitssymptome eingibt, so meine Erfahrung, lautet die Diagnose meistens Krebs. Doch im Ernst: Die Suchmaschine liefert auf viele Fragen gute Antworten. Aber nicht beim Thema Gesundheit.
Und wie gesund ist Aevis Victoria? Letztes Jahr schrieb die Firma rote Zahlen und musste die Dividenden streichen ...
… 2023 war ein schwieriges Jahr für die ganze Gesundheitsbranche. Kommt dazu, dass wir letztes Jahr viele Investitionen tätigten. Aber jetzt sind wir wieder auf Kurs und schrieben im ersten Halbjahr 2024 einen operativen Gewinn von fast 90 Millionen Franken.
Mit nur 29,4 Prozent liegt die Eigenkapitalquote weiterhin tief. Welchen Wert streben Sie hier mittelfristig an?
Die Eigenkapitalquote ist solide genug, vor allem weil es sich bei unseren Verbindlichkeiten hauptsächlich um Hypotheken für erstklassige Liegenschaften handelt.
Aevis Victoria umfasst die nach Hirslanden zweitgrösste Schweizer Privatklinikgruppe sowie zehn luxuriöse Hotels. Einmal Hotellerie für Kranke, einmal Hotellerie für Gesunde – und beide Sorten Gäste will man möglichst lange einquartieren, richtig?
Früher war das richtiger als heute. Dank neuer Technologie werden Spitalaufenthalte tendenziell kürzer. Die Verlagerung vom stationären in den ambulanten Bereich wird deshalb weiter zunehmen.
Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Bereichen?
Exzellenz und den absoluten Kundenfokus.
Aevis Victoria versucht, mit dem integrierten Modell Réseau de l’Arc in Zusammenarbeit mit der Krankenkasse Visana das Schweizer Gesundheitswesen zu reformieren. Wie funktioniert das Managed-Care-System, das an das kalifornische System Kaiser Permanente und an das spanische System Ribera Salud angelehnt ist?
Kern dieser Versicherung, die unter dem Namen Viva am Markt auftritt, ist, dass der Hausarzt als Dreh- und Angelpunkt funktioniert und alle weiteren Behandlungen koordiniert. Ziel dieser ersten vollintegrierten Versorgungsorganisation ist, dass wir unsere Kundinnen und Kunden in ihren Gesundheitsthemen professionell, persönlich und holistisch begleiten. Demgegenüber ist die ganze Gesundheitsbranche heute immer noch in Silos organisiert – der eine Dienstleister weiss nicht, was der andere gemacht oder verschrieben hat.
Was machen Sie anders?
Bei uns können wir die Krankheitsgeschichte digital verfolgen und wissen somit genau, was wann passiert ist. Die Erfahrung zeigt: Je besser ein Patient betreut wird, desto weniger Fachpersonen wird er tendenziell aufsuchen. Was wir zusätzlich tun: Wir vernetzen Patientinnen mit gleichen Symptomen. Wenn sie wollen, können sie sich so wie in einem Club über ihre Erfahrungen unterhalten.
Ist der Viva-Gesundheitsplan ein Vehikel, um die Kliniken von Aevis Victoria besser auszulasten?
Nein, unsere Kliniken sind alle gut ausgelastet. Das Réseau de l’Arc ist vielmehr die erste erfolgreiche Public-Private-Partnership im Spitalbereich. Wichtig bei diesem Gesundheitsplan sind Prävention und Kooperationen. Und die Patienten und Patientinnen werden, falls nötig, auch extern behandelt, zum Beispiel in Universitätsspitälern. Wichtig ist einfach, dass wir den kompletten Überblick haben; der gesamte Prozess muss lückenlos dokumentiert sein.
Was kostet die Prämie pro Monat?
Das hängt vor der Höhe der Franchise ab. Im Jahr 2025 sind wir der günstigste Anbieter im Berner Jura für fast jedes Produkt.
Warum soll man denn überhaupt Mitglied des Viva-Gesundheitsplans werden wollen?
Weil wir einen ganzheitlicheren Ansatz haben. Anders als andere Anbieter kümmern wir uns auch dann um unsere Kundinnen und Kunden, wenn sie gesund sind. Wir bieten viele Präventionsmassnahmen an und bemühen uns, für jedes Mitglied den individuell richtigen Gesundheitsplan zu definieren.
Wie viele Versicherte haben Sie aktuell?
Zu Beginn sind wir in den Kantonen Bern, Jura und Neuenburg aktiv. Aktuell sind es rund 1400 Mitglieder. Wichtiger als diese Zahl ist aber, dass wir es geschafft haben, die erste voll integrierte Versorgungsregion in der Schweiz zu verwirklichen.
Und wie viele Mitglieder hätten Sie gerne?
Auf mittlere Frist, also in drei bis vier Jahren, sollten es mindestens 5000 sein. Die Herausforderung dabei ist natürlich, dass wir ein Angebot lanciert haben, welches man in dieser Form noch nicht gekannt hat und das deshalb Anlaufzeit braucht.
In der Welt der Wirtschaft sind in der Regel Skaleneffekte nötig, um ein ganzes System rentabel zu machen. Ist Ihre Basis dafür nicht zu klein?
Wir brauchen nicht Tausende Mitglieder, um profitabel zu sein. Und wichtig ist, dass wir mit diesem Modell Dinge lernen, die für den ganzen Konzern interessant sein können. Man darf nicht vergessen, dass unser System erst gerade acht Monate alt ist.
Wollen Sie mit dem Modell Réseau de l’Arc in weiteren Kantonen wachsen?
Ja, wir wollen damit expandieren und sind mit mehreren neuen Regionen in Gesprächen. 2025 lancieren wir Viva im Kanton Tessin. In einer zweiten und dritten Region wird sich die Rentabilität schneller einstellen, weil wir von den Anfangsinvestitionen profitieren können. Wachstum wird sich aber nur mit Kooperationen erreichen lassen. Es ist auch denkbar, dass wir mit unserem Modell zu einer Art Franchisegeber werden und somit das System per Lizenzgebühr fördern.
Interessant wird das Modell für das Unternehmen wohl erst dann, wenn die Kunden und Kundinnen über längere Zeit loyal bleiben. Wie wollen Sie das schaffen?
Idealerweise sollte man der Kundschaft nicht nur einen einjährigen Vertrag, sondern auch günstigere Varianten über drei oder fünf Jahre anbieten können. Das geht aber aus regulatorischen Gründen in der Schweiz bisher nicht. Klar, was wir hier tun, ist eine Investition in die Zukunft. Wenn wir gute Arbeit leisten, werden wir die Kundinnen und Kunden behalten können. Dies auch zu ihrem eigenen Vorteil: Wenn die Patienten und Patientinnen länger bei uns sind, kann man über die ganze Zeit gewisse Dinge wie Check-ups besser koordinieren. Damit erreichen wir auch Leute, die immer erst dann zum Arzt gehen, wenn sie plötzlich krank werden. Wenn man vorher ansetzt, wird Gesundheit zum persönlichen und professionell überwachten Langzeitprojekt. Alle Studien bestätigen das immer wieder: Prävention ist die beste Massnahme, um langfristig gesund zu bleiben.
Die Krankenkassenprämien verteuern sich auf 2025 im Schnitt um 6 Prozent. Wie viel teurer werden die Prämien beim Réseau de l’Arc?
Null Prozent – sie werden also nicht teurer!
Keine Prämienerhöhung? Wie machen Sie das?
Der Gesundheitsplan Viva von Réseau de l’Arc schlägt nicht auf, weil sich das Geschäft in den ersten neun Monaten sehr positiv entwickelt hat. Es gelang, bei hoher Kostendisziplin ein breites Dienstleistungsportfolio aufzubauen. Die Prämieneinnahmen sind ausreichend, um dieses System der integrierten Versorgung weiter zu fördern und die Anzahl Mitglieder zu steigern.
Wer ist schuld daran, dass die Prämien Jahr für Jahr steigen? Gierige Pharma? Medizinische Fehlanreize? Wehleidige Bevölkerung? Politische Fehlplanung?
Das Problem ist, dass es zu viele Erklärungen gibt – und dass mehr oder weniger alle stimmen. Die Frage, die über allem steht, ist diese: Was prägt das System am stärksten? Hier ist die Antwort klar: die Alterung der Gesellschaft. Kommt dazu, dass wir in der Schweiz ein Überangebot an Spitälern und Kliniken haben. Und noch etwas: Der Fokus sollte mehr auf der Nahversorgung liegen – aber bei den medizinischen Spezialdisziplinen sollte man vermehrt überkantonal denken.
Das Thema Gesundheit kannten Sie aus Ihrer Migros-Zeit bereits. Das Hotelbusiness aber war Ihnen neu. Beim orangen Riesen kannten Sie nur einen Tourismus – den Einkaufstourismus, richtig?
Nicht ganz. Zwar gehörten zur Migros keine Luxushotels, aber als VR-Präsident der Hotelplan Group hatte ich viele Einblicke in den Tourismus.
In der Hotellerie haben Sie neun Schweizer Häuser und eines in London. Wie oft erhalten Sie Angebote zur Übernahme neuer Hotels?
Viel zu oft. Aktuell werden uns jede Woche neue Hotels zur Übernahme angeboten.
Woher kommen diese Angebote?
Geografisch aus der Schweiz und aus ganz Europa. Aus wirtschaftlicher Sicht haben diese Angebote oft zwei Hintergründe: Entweder will man uns Hotels als Ganzes verkaufen. Oder aber es sind Immobilienfirmen, die anfragen, ob wir das Management gewisser Hotels übernehmen wollen.
Wollen Sie diese Sparte überhaupt ausbauen?
Im Moment liegt der Fokus auf organischem Wachstum. Zum Beispiel sehen wir in Zermatt grosses Potenzial und investieren dort weiter. Grundsätzlich schliessen wir aber Übernahmen nicht aus.
Vom «Goldenen Ei» in Davos hiess es lange, dass es verkauft werden solle. Was ist jetzt da der aktuelle Stand – und weshalb dieser Entscheid?
Wir sind mit den Resultaten des Hotels Alpengold extrem zufrieden und freuen uns dort über ein organisches Wachstum im zweistelligen Bereich.
Sie wollen das Alpengold also behalten.
Was wir in erster Linie wollen: das Haus erfolgreich betreiben.
Konkret: Steht das Alpengold bei Ihnen auf der Verkaufsliste?
Grundsätzlich ist es so: Unsere Verkaufsliste ist leer. Wir haben nichts zu verkaufen. Auch das Alpengold nicht. Sollte es aber so sein, dass ein interessanter Partner an uns herantritt und sich daraus eine ganz neue Situation ergibt, dann würden wir das natürlich prüfen.
Von den zehn Hotels steht mit dem L’Oscar ein einziges im Ausland, in London. Ist das ein Exot – oder suchen Sie weitere Hotels im Ausland? Wo?
Wir könnten uns gut vorstellen, im Ausland weiter zu wachsen. Für uns würden da wohl städtische Destinationen im Vordergrund stehen.
In Flims besitzt Ihr Unternehmen das Hotel Adula. Waren Sie auch am «Waldhaus Flims» interessiert, das nun der rumänischen Paval Holding und der litauischen Apex Alliance gehört?
Wir wurden kontaktiert, haben uns das Dossier angeschaut und schnell gemerkt, dass diese Investition kein Spaziergang werden würde. Wir hatten kein Interesse daran, finden es aber gut, dass ein neuer Investor gefunden wurde.
Ein Konkurrent für Sie …
Was in der Öffentlichkeit oft falsch verstanden wird: Wir freuen uns überhaupt nicht, wenn ein Konkurrenzhotel schliesst oder lange geschlossen bleibt. Im Gegenteil: Wir freuen uns über jedes Haus, das offen ist und offen bleibt. Weil es die Attraktivität einer Destination stärkt.
Ist es für die Synergieeffekte wichtig, dass die Hotelgruppe wächst und so die Overhead-Kosten pro Betrieb sinken?
Das ist nicht unser Ansatz. Für uns ist es wichtiger, dass jedes Haus für sich selbst funktioniert und seine Gäste mit lokalem Touch begeistert. Wo wir eher Entwicklungsmöglichkeiten sehen, ist bei den Gastro-Konzepten der einzelnen Hotels. Diese könnten wir innerhalb unserer Gruppe multiplizieren; hier sehen wir Potenzial, dass wir vermehrt Kunden und Kundinnen ansprechen können, die zwar keine Hotelgäste sind, aber sich von unserem Gastronomieangebot angezogen fühlen.
Wollen Sie in beiden Bereichen – Privatkliniken und Hotels – die Zimmerbelegungsraten möglichst hoch halten?
Die Spielregeln der beiden Sparten sind unterschiedlich. Bei den Hotels spielt die Belegungsrate die grössere Rolle. Im Klinikbereich streben wir vermehrt ambulante statt stationäre Behandlungen an. Hier kommt es viel stärker darauf an, wie gut die Operationssäle besetzt sind. Mit unserem Belegarztsystem geht es vor allem darum, die Infrastruktur optimal auszulasten.
Aevis Victoria versteht sich als Beteiligungsgesellschaft. Soll zu den zwei Sparten Privatkliniken und Luxushotellerie noch eine dritte hinzukommen?
Nein. Zwei operative Standbeine sind genug. Gleichzeitig entwickeln wir die hochwertigen Immobilien dieser beiden operativen Einheiten weiter, die konsolidierten Hotelimmobilien sowie die nicht konsolidierten Spitalimmobilien.
Was ist eigentlich der grösste Unterschied zwischen Ihrer Zeit als Migros-Chef und Ihrer heutigen CEO-Rolle bei Aevis Victoria?
Nun, da gibt es einige Unterschiede.
In unserer Sicht ist es so: Die Migros gehört zwei Millionen anspruchslosen Genossenschaftern, bei Aevis müssen Sie die Börse und renditehungrige Investoren happy machen. Was ist schwieriger?
Ich will doch hoffen, dass der erste Teil so nicht stimmt. In meiner Auffassung war das jedenfalls nicht so. Und Aevis wird von zwei langfristig agierenden Unternehmern kontrolliert; der Druck der Märkte ist zwar vorhanden, aber nicht wie im beschriebenen Ausmass.
Was für den neuen Arbeitgeber sprechen dürfte: weniger Stress für Sie, besserer Lohn, mehr Top-down. Zehn Hotels – und dafür kein Ärger mehr mit zehn Regionalfürsten.
Gar nicht. Ich hatte immer Freude an menschlicher Interaktion auf verschiedenen Stufen. Das gilt auch heute noch.
Ihr Nachfolger Mario Irminger baut die Migros stark um und trennt sich auch von Feldern, die Sie aufgebaut haben. Fassen Sie das als Kritik an Ihrer Arbeit als Migros-Chef auf?
Ich habe der Migros über 26 Jahre lang mit Stolz und Freude gedient. Im Mai 2024 gab ich mit dem Präsidium der Migros Bank meinen letzten Migros-Posten ab. Deshalb äussere ich mich nicht mehr zur Migros.
Migros: Game over?
Es gibt ja dieses Motto: «Servir et disparaître» – dienen und dann verschwinden. Viele sagen das einfach. Ich sage es nicht nur – ich halte mich daran.
Was Sie aber freuen dürfte: Bei den Hotels von Aevis Victoria müssen Sie nicht mehr, wie damals bei der Migros, um ein Recht auf Alkohol kämpfen.
Servir et disparaître.
Letzter Versuch: Nehmen Sie das Gesundheitsangebot der Migros in irgendeiner Form als Konkurrenz zu Aevis Victoria wahr?
Zwei Antworten: Nein, heute nicht. Wir sind hauptsächlich im Privatspitalbereich aktiv, die Migros-Tochter Medbase stärker in den Gesundheitszentren.
Und Teil zwei?
Wir sind stets offen für alle Arten von Kooperationen. Mit verschiedenen Arten von Akteuren in der Gesundheitsbranche, die ebenfalls Neues schaffen wollen. Wir jedenfalls sehen uns in diesem Feld als Pioniere.
Ihr Unternehmen hat kürzlich in Genolier, zwischen Genf und Lausanne, einen medizinischen Innovationshub eröffnet. Was wollen Sie damit erreichen?
Wie wichtig das Projekt ist, sieht man nur schon daran, dass mehr als 100 Millionen Franken in das Projekt investiert wurden.
Eine Art Start-up-Parkhaus für Gesundheitstüftler?
Nicht für Start-ups, sondern eher für sogenannte Scale-ups, also Jungfirmen, die schon einen Schritt weiter sind, beziehungsweise für Anwendungen, die in absehbarer Zeit im medizinischen Alltag eingesetzt werden sollen. Wir eröffnen also einen Campus für Firmen, die an der Gesundheitstechnologie von morgen arbeiten.
Der Wunsch: ein Schweizer Hospital-Valley etablieren?
Unser Anspruch ist schon etwas höher. In Zusammenarbeit mit zahlreichen wissenschaftlichen und Geschäftspartnern wollen wir mit dem Genolier Innovation Hub bezüglich Health-Tech und Med-Tech zu einem wichtigen Punkt auf der europäischen Landkarte werden.