Am Ufer des Bosporus zieht Özge Seker (40) ihr rotes Barett tief ins Gesicht. Ein eisiger Wind wirbelt vereinzelte Schneeflocken durch die leeren Strassen Istanbuls. «Sobald hier Schnee fällt, kommt das öffentliche Leben zum Erliegen», lacht Seker und rettet sich zum nächstgelegenen Café in die Wärme.
Obwohl das Wetter an diesem Morgen zur Stimmung der Türkinnen und Türken passt, ist es nicht der einzige Grund für die ungewohnte Ruhe. Die Benzinpreise sind innert weniger Wochen stark angestiegen, weswegen viele den eigenen Wagen stehen lassen. Die Schweiz spricht dieser Tage vom Schreckgespenst Inflation; in der Türkei ist es bereits Realität.
Seker, Tochter türkischer Einwanderer in die Schweiz, ist in Lausanne aufgewachsen. Ihre Eltern leben noch heute in der Waadt. Für die Liebe kehrte sie vor 15 Jahren nach Istanbul zurück. Damals herrschte Parität zwischen der türkischen Währung und dem Schweizer Franken. Ihr monatliches Einkommen von 2000 Lira reichte für ein bequemes Leben. «Heute gebe ich mehr als 2000 Lira für die monatlichen Lebensmitteleinkäufe aus», sagt die zweifache Mutter.
Der schlechte «Ökonom» Erdogan
Ein Ende der Preisexplosion ist nicht in Sicht. Anfang Februar bezifferte das türkische Statistikbüro die jährliche Inflationsrate auf 49 Prozent – so hoch wie seit 19 Jahren nicht mehr. Viel zu hoch für Erdogans Gusto, der sich nicht anders zu helfen wusste, als den obersten Statistiker des Landes kurzerhand freizustellen.
Restaurants und Geschäfte schrauben die Preise mittlerweile im Wochentakt nach oben. So oft, dass sich ihre Besitzer nicht einmal mehr die Mühe machen, Speisekarten und Werbetafeln zu ersetzen, sondern zum Filzstift greifen.
Ausgerechnet Recep Tayyip Erdogan (67) giesst in dieser heiklen Situation zusätzlich Öl ins Feuer. Entgegen der gängigen geldpolitischen Lehre – Erdogan nennt sie die «kapitalistische Logik des Westens» – hat Zentralbankchef Sahap Kavcioglu (54) den Leitzins seit Ende des dritten Quartals von 19 auf 14 Prozent gesenkt. Weil Banken so immer billigere Kredite verteilen, erhöht sich die im Umlauf befindliche Geldmenge – und damit das Preisniveau. Zuvor hatte Erdogan drei seiner Vorgänger innert zwei Jahren entlassen; sie hatten sich gegen seine Geldpolitik gestellt.
Vor der Blauen Moschee, eine ferne Erinnerung an das Osmanische Reich als Weltmacht, sagt ein Touristenführer: «Noch gestern war Erdogan Virologe, heute ist er Ökonom. Leider ein denkbar schlechter.»
Bitcoin statt Lira
Während die Inflation in schwindelerregende Höhen steigt, rasselt die türkische Lira in den Keller. Eine türkische Lira ist inzwischen noch gut sieben Rappen wert. Vor einem Jahr waren es noch 13 Rappen gewesen.
Erdogans Versuch, die Bevölkerung zum Umtausch ihres Golds zu bewegen, läuft ins Leere. Stattdessen öffnen in der Metropole erste Wechselstuben für Kryptowährungen ihre Tore. Das Vertrauen in Bitcoin und Co. scheint inzwischen höher zu sein als in die eigene Währung.
Auch ausländische Güter werden mit dem Währungszerfall unerschwinglich. Sekers Familie muss das am eigenen Leib erfahren. Ehemann Ozan (43) importierte bis vor kurzem Funkgeräte, verkaufte sie an Privatpersonen und Unternehmen weiter.
«Dumm nur, dass sich die momentan keiner leisten will», sagt er. Ozan verdient sich jetzt einen Zustupf als Fotograf, während Seker Französisch unterrichtet.
Zucker und Tee werden unerschwinglich
Wo das Goldene Horn in den Bosporus mündet, verbindet die Galatabrücke die beiden europäischen Stadtbezirke Fatih und Beyoglu. Hier ist Ahmed Mohamed Salih Hasan (62) fast täglich anzutreffen. Der Iraker kam vor einem Jahr mit Ehefrau und Stieftochter in die Türkei, wollte sich von seinen Ersparnissen ein Stück Land mit Vieh kaufen. Doch Hasan ging einem Betrüger auf den Leim, das Geld war weg.
Seither fängt er auf der Galatabrücke Fisch, was ihm ein tägliches Einkommen von gut 100 Lira – weniger als sieben Franken – beschert. Geringverdiener wie Hasan trifft die Wirtschaftskrise am härtesten. Er zeigt sein Portemonnaie – leer bis auf eine Fünf-Lira-Note. «Ich kann meiner Familie nicht mal mehr Zucker oder Tee kaufen», sagt er.
Dem Rest der Bevölkerung ergeht es nicht viel besser. Vierzig Prozent aller Arbeitnehmenden verdienen den Mindestlohn. Den hat Erdogans Regierung vor kurzem um 50 Prozent auf 4250 Lira erhöht. Nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein, angesichts der wachsenden Preise, allein für Elektrizität zahlen türkische Haushalte neuerdings 50 Prozent mehr.
Unschuldslamm Erdogan
Auf dem Gewürzbasar am Fusse Fatihs, einem der religiösesten und konservativsten Bezirke Istanbuls, ist die Krise nicht in gleichem Masse spürbar. Hier brummt das Geschäft dank Touristinnen und Touristen, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion und den Golfstaaten, die sich beim Besuch in der Türkei gleich noch Haare implantieren oder die Nase korrigieren lassen.
In Fatih verschwindet das Antlitz von Staatsgründer Atatürk zusehends aus den Geschäften. Stattdessen grüsst immer öfter Erdogans Porträt von den Wänden. Hier geniesst der Staatspräsident bereits jetzt Heldenstatus.
Stattdessen werden die Amerikaner oder gar die Türken selbst von den Gewürz- und Süsswarenverkäufern für die schlechte Wirtschaftslage verantwortlich gemacht. Verkäufer Kerim Öker (53), der in Aachen (D) aufgewachsen ist und noch vor der Jahrtausendwende in die Türkei zurückgekehrt ist, sagt stellvertretend: «Es sind die Leute, die die Preise erhöhen, nicht Erdogan.»
«Umsatz ist um 75 Prozent eingebrochen»
In Kadiköy, historisch ein beliebter Zufluchtsort von Minderheiten auf der asiatischen Seite, schlägt Burcin Cileli (38) ganz andere Töne an. Als lesbische Barbetreiberin und Musikerin vertritt sie die progressive Türkei, das grosse Feindbild Erdogans.
Im Gegensatz zu den Gewürzverkäufern in den touristischen Teilen Istanbuls ist ihre Kundschaft mittelständisch, türkisch. Und bleibt seit Anfang Jahr weitgehend weg. Denn zu Beginn des Jahres hat die Regierung die Steuern für Tabak und Alkohol um 47 Prozent erhöht. Nach eineinhalb Jahren Corona-Zwangspause ist das ein schwerer Schlag: «Mein Umsatz ist seit Jahresbeginn um 75 Prozent eingebrochen. Geht es so weiter, bin ich in wenigen Monaten bankrott», sagt Cileli.
Ihrer Meinung nach sind die jüngsten Massnahmen der Regierung nicht nur wirtschaftlicher Natur. «Seit es der Wirtschaft schlecht geht, versucht sie ihre Popularität per Kulturkampf zu steigern», sagt sie. Doch trotz Zugeständnissen an ultrakonservative und religiöse Kreise wird Erdogan eine Niederlage an der im nächsten Jahr stattfindenden Wahl vorausgesagt. Ob Cileli das noch in Istanbul erleben wird, ist fraglich: «Ich möchte auswandern, am liebsten nach Malta.»
Seit gestern beträgt in der Türkei die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel nur noch ein statt bislang acht Prozent. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (67) hatte die Senkung angesichts der Hyperinflation in seinem Land am Samstag in einer TV-Ansprache angekündigt. Er erwarte, dass die Preise für Reis, Fleisch, Obst und Gemüse, Milchprodukte und Eier damit deutlich fielen, so Erdogan. Die Steuer auf Mehl und Brot betrug bereits ein Prozent. Die Türkei kämpft mit einer Währungskrise. Zum Jahreswechsel waren Energiepreise explodiert. Strompreise für Haushalte wurden etwa um 50 Prozent angehoben. Angesichts der Lage im Land wächst auch der Unmut bei den Menschen. Kürzlich kam es zu kleineren Protesten. Die grösste Oppositionspartei CHP hatte zuletzt vor einer Verarmung vieler Menschen gewarnt.
Seit gestern beträgt in der Türkei die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel nur noch ein statt bislang acht Prozent. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (67) hatte die Senkung angesichts der Hyperinflation in seinem Land am Samstag in einer TV-Ansprache angekündigt. Er erwarte, dass die Preise für Reis, Fleisch, Obst und Gemüse, Milchprodukte und Eier damit deutlich fielen, so Erdogan. Die Steuer auf Mehl und Brot betrug bereits ein Prozent. Die Türkei kämpft mit einer Währungskrise. Zum Jahreswechsel waren Energiepreise explodiert. Strompreise für Haushalte wurden etwa um 50 Prozent angehoben. Angesichts der Lage im Land wächst auch der Unmut bei den Menschen. Kürzlich kam es zu kleineren Protesten. Die grösste Oppositionspartei CHP hatte zuletzt vor einer Verarmung vieler Menschen gewarnt.
«Türkei wird nicht nur finanziell ärmer»
Cileli ist nicht alleine. Vor allem Junge wollen das Land verlassen – laut einer im letzten Jahr durchgeführten Umfrage ganze zwei Drittel. Viele arbeiten bereits jetzt online für ausländische Firmen, um ihren Lohn in US-Dollar oder Euro zu beziehen.
Architekt und Automobildesigner Engin Tulay (45) ist in Istanbul aufgewachsen und absolvierte Bachelor und Master an der besten technischen Universität des Landes. Lange hat er versucht, in Istanbul beruflich glücklich zu werden. Erfolglos. «Die Türkei bietet mir schon lange keine Möglichkeiten mehr, mich weiterzuentwickeln», sagt er. Soeben hat er sich an der ETH Zürich für ein Doktorat beworben, er will das Land endgültig verlassen.
Die Talentabwanderung dürfte die Türkei noch teuer zu stehen kommen. Denn hoch qualifizierte Arbeitskräfte zu finden, wird schwieriger. «Nicht nur finanziell wird die Türkei zunehmend ärmer», sagt Tulay.
Auch die Zukunft von Sekers Familie ist ungewiss. «Wir lieben Istanbul, aber mal schauen, wie lange wir durchhalten. Eine Rückkehr in die Schweiz haben wir immer im Hinterkopf», sagt sie.