Seit zwei Jahren leben Selina Gerber (24), Andreas Capoccia (35) und Tochter Ayana (1) im Zentrum von Tobel TG. Ihre Neubauwohnung bietet 4,5 Zimmer auf 110 Quadratmetern und einen grossen Balkon – für 1595 Franken inklusive Nebenkosten. «Dieser Preis ist unschlagbar», sagt Selina Garber. «Es gibt nichts Vergleichbares in der Region.» Der Grund für die tiefe Miete verblüfft: «Es liegt am Umgang unserer Siedlung mit Energie», sagt Gerber.
Dächer und Balkone der fünf Mehrfamilienhäuser der Energie-Siedlung in Tobel sind komplett mit Solaranlagen bedeckt. Erdsonden und Wärmepumpen versorgen die 50 Wohnungen mit Wärme. Der Minergie-Passivhaus-Standard sorgt für optimale Isolierung. Effiziente Geräte, automatische Lüftung und LED-Lampen senken den Energieverbrauch zusätzlich.
Während in konventionellen Gebäuden 80 Prozent der Energie verloren gehen, decken die Plus-Energie-Bauten (PEB) von Tobel den Gesamtbedarf fast ohne Verluste ab. Mehr noch: Sie erzeugen massive Stromüberschüsse. Die Siedlung verbraucht jährlich 129'500 Kilowattstunden (kWh) Energie, produziert aber 236'300kWh – ein Überschuss von 82 Prozent, der gegen Vergütung ins Netz geht.
«Wir haben Energie und Ökonomie kombiniert», sagt Architekt Giuseppe Fent (69). «Sechs Prozent höhere Investitionen als bei konventioneller Bauweise reichten aus, um Mietpreise weit unter dem Durchschnitt zu erreichen.» Fent betont: «Wir sind keine Weltverbesserer. Die Anlage rentiert.»
Weltrekord dank Solardach
Der Verein Solar Agentur Schweiz hat eine neue Studie vorgelegt, die das Potenzial von Plus-Energie-Bauten anhand gemessener Werte berechnet. Die Zahlen lassen aufhorchen: Würde die Schweiz die Hälfte aller Gebäude nach dem PEB-Konzept bauen oder sanieren, würden diese Häuser für 127 Terawattstunden (TWh) Solarstrom produzieren. Bei 80 Prozent PEB-Gebäuden resultieren sogar 435 TWh.
Das sind satte Werte. Zum Vergleich: 2021 verbrauchte die Schweiz 60 Terawattstunden Strom. Der Gesamtenergiebedarf des Landes – Heizen und Verkehr also miteinbezogen – liegt bei 220 TWh. Mit Plus-Energie-Bauten könnte die Schweiz das Doppelte ihres Energiebedarfs erzeugen – aus eigener Solarkraft. Die zunehmende Elektromobilität liesse sich damit ebenfalls problemlos versorgen.
Was aus PEB herauszuholen ist, zeigt das Einfamilienhaus von Ursula und Arnold Brunner Bapst in Waltensburg GR: Es produziert einen Stromüberschuss von 700 Prozent des Verbrauchs. Das ist Weltrekord – dank eines 270 Quadratmeter grossen Solardachs mit West-Ost-Ausrichtung, das den ganzen Tag Energie liefert.
Das Holz-Beton-Haus mit grossen Fenstern hat ein ausladendes Vordach. Im Sommer schützt es vor zu viel Einstrahlung durch die hochstehende Sonne. Im Winter hingegen erwärmt die flache Einstrahlung das Gebäude. «Dank der Passivenergie brauchen wir sehr wenig Strom», sagen die Brunners.
Zur Unabhängigkeit reicht es noch nicht
Deshalb geht die Rechnung auch wirtschaftlich auf. «Unser Haus rentiert», sagt Arnold Brunner. «Die Anlage ist in zwölf Jahren amortisiert. Und da ist die Ersparnis durch die Eigenstromproduktion noch nicht mitgerechnet.» Bei viel Schnee müssen die Brunners im Winter zwar etwas Strom zukaufen – im letzten Jahr allerdings gerade ein Zehntel der Menge, die sie selbst ins Netz eingespeist hatten.
Dennoch: Zur totalen Unabhängigkeit reicht es in Tobel und Waltensburg noch nicht. «Das Thema ist mit ein paar grossen Pumpspeicherwerken vom Tisch«, entgegnet Gallus Cadonau (72), Geschäftsführer der Solar Agentur. «Allein deshalb, weil Plus-Energie-Bauten den Verbrauch auch im Winter massiv senken.»
Eine PEB-Umrüstung der Schweiz wäre zwar nicht gratis zu haben, sagt Cadonau. «Aber wenn der Bund in den nächsten 15 Jahren 30,5 Milliarden Franken investiert, resultieren daraus Einnahmen von 35 Milliarden. Hinzu kommen Einsparungen von 45 Milliarden durch reduzierte Energieverluste», rechnet Cadonau vor. «Das scheint mir eine sehr vorteilhafte Alternative zu den letzten 15 Jahren, in denen die Schweiz insgesamt rund 120 Milliarden Franken für fossile und nukleare Energieimporte ausgegeben hat.»
Enorme Energieeffizienz und Überschüsse, die sich rechnen – zu schön, um wahr zu sein? SonntagsBlick hat bei Jürg Rohrer (60), Dozent für Erneuerbare Energien und Energieeffizienz an der ZHAW, nachgefragt. «Das PEB-Konzept funktioniert», sagt Rohrer. «Es muss zum Standard für alle Neubauten in der Schweiz werden.» Entscheidend sei die effektive Ausschöpfung des Potenzials. In einer noch unveröffentlichten Studie kommt Rohrer nämlich zum Schluss: «Das Solarpotenzial auf unseren Dächern wird heute nur zu fünf Prozent genutzt.»
«Wir verdienen gut damit»
Was auch daran liegt, dass sich die Einspeisevergütungen von Gemeinde zu Gemeinde unterscheiden. Und dass es in keinem Kanton eine Pflicht für Neubauten gibt, mehr Strom zu produzieren, als sie verbrauchen. Deshalb stehen heute gerade einmal 230 Plus-Energie-Bauten in der Schweiz.
Die sind zudem sehr ungleichmässig verteilt: 51 sind es im Kanton Bern, 25 in St. Gallen, 22 in Graubünden – in Glarus, Waadt und Jura hingegen steht kein einziges.
Der Thurgau zählt 16 Plus-Energie-Bauten – nicht zuletzt, weil der Kanton 20 Prozent mehr Ausnützung gewährt, wenn mit dem Minergie-Passivhaus-Standard gebaut wird. Seit Anfang Jahr gibt es ausserdem Fördergelder für grosse Solaranlagen mit wenig Eigenverbrauch. «Die Kantone müssen die Rahmenbedingungen so setzen, dass sich solche Bauten rechnen», sagt der Thurgauer Volkswirtschaftsdirektor Walter Schönholzer (56, FDP). Dann werde das PEB-Konzept boomen. «Das Potenzial ist enorm!»
Und zwar nicht nur bei Neubauten, wie Elisabeth und Christian Anliker beweisen. 2014 sanierte das Rentnerpaar sein 1765 erbautes Bauernhaus in Affoltern i. E. Vor der PEB-Renovation lag der Verbrauch bei 200'000 kWh – danach bei 13 000 kWh. Heute erzielt das riesige Solardach einen Überschuss von 600 Prozent des Verbrauchs. Seit dem Herbst ist der Preis für den Strom, den die Anlikers ins Netz liefern, von fünf auf 20 Rappen pro Kilowattstunde gestiegen. Christian Anliker: «Wir verdienen gut damit.»
Unerlässlich für das Klimaabkommen
Und doch: Sind das nicht linksgrüne Träumereien? SVP-Ständerat Hannes Germann (65) winkt ab: «Das PEB-Konzept ist visionär, aber nicht utopisch. Gerade uns Bürgerlichen steht es gut an, das Potenzial nicht zu unterschätzen.»
Germann hat schon 2019 eine Interpellation dazu eingereicht. Ihr Titel: «Das Pariser Klimaabkommen ist nur mit Minergie- P/Plus-Energie-Bauten im Gebäudeprogramm umsetzbar».
Wenn das bis in die Reihen der Bürgerlichen hinein unbestritten ist – weshalb gibt es nicht schon längst Zehntausende Plus-Energie-Bauten in der Schweiz?
Die Antwort hat mit Föderalismus und konservativen Architekten zu tun (Textbox unten). «Vor allem aber ist es eine Frage der Information», sagt SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf (53), Co-Präsidentin der Solar Agentur. «Das PEB-Potenzial ist bewiesen. Jetzt müssen wir das der Bevölkerung auch zeigen.»
Für Selina Gerber aus Tobel ist klar: «Diese Häuser machen unabhängig. Putin kann uns gestohlen bleiben.»
Plus-Energie-Bauten (PEB) erzeugen viel mehr Energie, als sie verbrauchen. Eine Studie der Solar Agentur Schweiz zeigt: Würde die Hälfte aller Gebäude nach dem PEB-Konzept gebaut oder saniert, würden sie für 127 Terawattstunden Solarstrom sorgen – mehr als das Doppelte des aktuellen Stromverbrauchs. Heute stehen in der Schweiznur 230 Plus-Energie-Bauten .
Denn: «Es gibt nur wenige Berufskollegen, die das Konzept anwenden», sagt Architekt Giuseppe Fent (69). Bauen mit Erneuerbaren werde an den Hochschulen kaum thematisiert. Dabei hätten Architekten grossen Einfluss auf die Bauherren.
Für die rechnen sich Solaranlagen schon heute: «Die Rendite liegt zwischen fünf und zehn Prozent», sagt Jürg Rohrer (60), Dozent für Erneuerbare Energien an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Doch die Einspeisevergütungen unterscheiden sich von Gemeinde zu Gemeinde. So gibt es in der Stadt Zürich fast fünf Rappen weniger pro Kilowattstunde als in Basel. Aber das kann sich ändern, die Preise werden jährlich neu festgesetzt.
«Das führt zu Unsicherheit», sagt Jürg Rohrer. Der Bund könnte das Problem zwar mit einer garantierten minimalen Einspeisevergütung lösen – aber Rohrer ist skeptisch, ob solche Anreize ausreichen: «Neubauten müssen mehr Energie produzieren, als sie verbrauchen. Diese Pflicht gehört in die kantonalen Energiegesetze geschrieben.»
Zu prüfen sei auch eine Ankurbelung der Sanierungsquote, die bei lediglich einem Prozent pro Jahr liegt.
Mehr fordern könnten aber auch die Gemeinden – von sich aus. Doch genau wie Bund und Kantone geben sie sich ungern streng. Weil sich die Architekten überdies kaum für PEB interessieren und viele Bauherren noch nie etwas davon gehört haben, ist die Schweiz von einer unabhängigen Energieversorgung noch weit entfernt.
Plus-Energie-Bauten (PEB) erzeugen viel mehr Energie, als sie verbrauchen. Eine Studie der Solar Agentur Schweiz zeigt: Würde die Hälfte aller Gebäude nach dem PEB-Konzept gebaut oder saniert, würden sie für 127 Terawattstunden Solarstrom sorgen – mehr als das Doppelte des aktuellen Stromverbrauchs. Heute stehen in der Schweiznur 230 Plus-Energie-Bauten .
Denn: «Es gibt nur wenige Berufskollegen, die das Konzept anwenden», sagt Architekt Giuseppe Fent (69). Bauen mit Erneuerbaren werde an den Hochschulen kaum thematisiert. Dabei hätten Architekten grossen Einfluss auf die Bauherren.
Für die rechnen sich Solaranlagen schon heute: «Die Rendite liegt zwischen fünf und zehn Prozent», sagt Jürg Rohrer (60), Dozent für Erneuerbare Energien an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Doch die Einspeisevergütungen unterscheiden sich von Gemeinde zu Gemeinde. So gibt es in der Stadt Zürich fast fünf Rappen weniger pro Kilowattstunde als in Basel. Aber das kann sich ändern, die Preise werden jährlich neu festgesetzt.
«Das führt zu Unsicherheit», sagt Jürg Rohrer. Der Bund könnte das Problem zwar mit einer garantierten minimalen Einspeisevergütung lösen – aber Rohrer ist skeptisch, ob solche Anreize ausreichen: «Neubauten müssen mehr Energie produzieren, als sie verbrauchen. Diese Pflicht gehört in die kantonalen Energiegesetze geschrieben.»
Zu prüfen sei auch eine Ankurbelung der Sanierungsquote, die bei lediglich einem Prozent pro Jahr liegt.
Mehr fordern könnten aber auch die Gemeinden – von sich aus. Doch genau wie Bund und Kantone geben sie sich ungern streng. Weil sich die Architekten überdies kaum für PEB interessieren und viele Bauherren noch nie etwas davon gehört haben, ist die Schweiz von einer unabhängigen Energieversorgung noch weit entfernt.