Vitalii Stasiw (31) kann wieder lachen. «Das Leben in der Schweiz ist schön», sagt er und gibt seiner vierjährigen Tochter Daryna einen Kuss. Vor zwei Monaten ging es für Stasiw, seine Frau Iryna (32) und die drei Kinder Ivan (8), Anastasia (7) und Daryna noch um Leben und Tod. Ihre Stadt Iwano-Frankiwsk, die im Westen der Ukraine unweit von Lwiw liegt, gerät unter Beschuss der russischen Invasoren. Die junge Familie flüchtet über Nacht und kommt über Polen, Tschechien und Österreich in die Schweiz.
Adliswil ZH, 7 Uhr morgens: Stasiw steht in der Küche und macht Tee. Die Kinder kommen nach und nach aus dem Zimmer. «Meine Frau und ich haben sie eben geweckt. Sie wollten nicht aufstehen – aber wer steht schon gerne früh auf?», sagt er und lacht. Vor wenigen Tagen haben die Stasiws eine 4,5-Zimmer-Wohnung in Adliswil ZH bezogen – von der Stadt zur Verfügung gestellt. «Die Schweiz hat uns sehr geholfen. Die Behörden wie auch die Bürger», sagt Stasiw und zeigt ins Wohnzimmer. «Ein Freund von mir arbeitet bei Google in Zürich. Er hat intern gefragt, wer alte Möbel für eine ukrainische Flüchtlingsfamilie habe. Innert Tagen haben uns zig Menschen die Wohnung gefüllt.»
Dann bittet er zu Tisch. Seine Frau Iryna hat Sirnik zubereitet, traditionelle Käsekuchen aus ihrer Heimat. Die Kinder langen kräftig zu. Die Jüngste, Daryna, malt nebenbei noch eine Zeichnung. «Jetzt erwachen sie langsam», sagt der Vater und streichelt Anastasia über das Gesicht.
«Papa, musst du jetzt ins Militär?»
Kurz vor 8 Uhr geht der Tag so richtig los. Die zwei ältesten Kinder müssen zur Schule. Sie gehen die kurze Strecke selbständig zu Fuss. «Daryna kommt erst im August in den Kindergarten», sagt Vitalii Stasiw auf dem Weg zu seinem Auto mit ukrainischem Nummernschild. Er fährt mit seiner Jüngsten nach Zürich-Oerlikon, wo er in den Räumen der Asylorganisation Zürich (AOZ) täglich dreieinhalb Stunden lang Deutsch büffelt. Auf der Autofahrt erzählt er von seiner Flucht aus der Ukraine.
«Als der Krieg gegen Ende Februar ausbrach, haben wir uns als Familie zuerst entschieden zu bleiben», sagt Stasiw. Er meldet sich bei seiner Stadt und hilft in den ersten Wochen von morgens bis abends aus, wo es nur geht. Seine Frau und die Kinder bleiben zu Hause. «Aber Kinder kann man nicht in den eigenen vier Wänden einsperren. Sie wollen raus und spielen», sagt Stasiw. Auf den Spielplätzen haben sie die ukrainischen Kampfjets gehört und hochgeblickt. «Sie wussten, dass Krieg herrscht.»
Als Mitte März Raketen in Iwano-Frankiwsk einschlagen und die Lage auch im Westen der Ukraine unsicherer wird, hält die Familie noch am selben Abend einen Krisengipfel am Esstisch ab. «Die Kinder weinten und haben gefragt: ‹Papa, musst du jetzt ins Militär?›» Seine Frau und er entscheiden wegen der militärischen Eskalation, aus der Ukraine in die Schweiz zu fliehen. Vitalii Stasiw profitiert von einer Sonderregel – Väter mit drei Kindern dürfen zu diesem Zeitpunkt das Land noch verlassen. «Am nächsten Morgen sind wir losgefahren. Ich wollte in die Schweiz, weil ich viel Gutes über das Land gehört habe und die Natur liebe», sagt Stasiw.
Deutschunterricht: «Wichtig für die Integration»
Pünktlich zur Deutschstunde betritt er das Klassenzimmer. Daryna hat er kurz zuvor bei der hausinternen Kindertagesstätte der AOZ verabschiedet. Es ist der zweite Tag des intensiven Deutschkurses. Neun Frauen und drei Männer – alle aus der Ukraine – lernen heute Ländernamen und das deutsche Alphabet. Stasiw nimmt aktiv am Unterricht teil, streckt auf und stellt sich in der Übung seiner Banknachbarin auf Deutsch vor: «Ich komme aus der Ukraine. Woher kommen Sie?»
«Es ist alles noch etwas chaotisch», meint seine Lehrerin Sandy Caduff in der Pause. Am ersten Tag habe sie noch nicht einmal eine Klassenliste gehabt. «Die Ukrainer sind sehr freundliche und gebildete Menschen. Es macht Spass, sie zu unterrichten.» Stasiw findet: «Die Lehrerin ist super. Ich will schnell Deutsch lernen. Das ist sehr wichtig für die Integration.»
Um 12 Uhr klingelt die Glocke. Stasiw eilt zur Kita, wo Daryna bereits sehnsüchtig auf ihren Papa wartet. Sie springt ihm in die Arme. «Sie hat das heute wieder toll gemacht», sagt die Betreuerin.
Traumjob Kampfsport-Lehrer
Vitalii Stasiw, der Familienmensch. Doch der 31-Jährige hat auch eine andere Seite. Am Abend trainiert er in der renommierten Frota Academy im Herzen Zürichs. Stasiw ist ukrainischer Landesmeister in der Kampfsportart Jiu-Jitsu. Fünfmal die Woche geht er hier an seine Grenzen, in wenigen Wochen nimmt er für das Team Schweiz sogar an einem Wettkampf in Italien teil. «Das ist meine grosse Passion», sagt Stasiw verschwitzt.
Doch der Sport ist auch eine neue Chance. In der Ukraine hatte Stasiw seine eigene Academy mit mehreren Gyms. «Ich war Sportler und Trainer zugleich. Momentan sind alle Einrichtungen geschlossen. Ich weiss nicht, was nach dem Krieg davon übrig bleibt.». In Zürich möchte er seine Arbeit fortführen. Der Inhaber der Zürcher Kampfsportschule hat ihn für einzelne Trainingseinheiten bereits als Coach angestellt. An diesem Abend trainiert Stasiw eine Klasse, bestehend aus ukrainischen Flüchtlingskindern und Einheimischen. Einfühlsam und kompetent gibt er ihnen Anweisungen. Die Kinder haben grossen Spass, scheinen für einen Moment ihre Sorgen vergessen zu können. «Das bedeutet mir viel», sagt Stasiw. «Wenn alles gut läuft, kann ich hier eine feste Stelle als Trainer antreten. Das wäre ein Traum.»
«Die Schweiz hilft – ihr müsst aber auch euren Teil beitragen»
Obwohl die Familie erst seit wenigen Wochen in der Schweiz ist, scheint sie mitten im Leben angekommen zu sein. «Land und Leute sind super – ich liebe die Schweiz. Wir sind so dankbar für die Hilfe und Gastfreundschaft», sagt er. Dann wird Stasiw nachdenklich: «Ich verstehe nicht, dass einige ukrainische Flüchtlinge sich in den sozialen Medien über die Schweiz beschweren.» Er ortet das Problem bei ihnen selbst. «Man kann nicht einfach hierherkommen, nichts tun und fordern, dass die Schweizer alles fallen und liegen lassen und helfen», sagt er. «Ich habe mich aktiv darum bemüht.»
Tagelang sei Stasiw immer wieder zum Stadthaus in Adliswil gefahren, habe Gespräche geführt und sich über die Abläufe informiert. «Für uns hat alles super funktioniert. Wir haben eine Wohnung bekommen, ich darf einen Deutschkurs besuchen und meine Kinder die Schule.» Sein Ratschlag an alle Flüchtlinge aus der Ukraine: «Nehmt euer Schicksal selbst in die Hand. Informiert euch, zeigt Interesse. Die Schweiz empfängt euch mit offenen Armen – aber ihr müsst euren Teil dazu beitragen.»
Was seine Familie macht, wenn der Krieg in der Ukraine einmal zu Ende ist, weiss Stasiw noch nicht. «Unsere Eltern und Grosseltern sind dort. Wir sprechen jeden Tag mit ihnen, momentan ist es sehr schwierig.» Gerne würde er zu seinen Liebsten zurückkehren. «Aber ich glaube leider nicht, dass das in absehbarer Zeit möglich ist.» Jetzt möchte er sich mit seiner Familie auf die Schweiz fokussieren. «Wir wollen uns integrieren, die Regeln und die Sprache lernen. Alles andere schauen wir später, wenn es so weit ist.»