: Interview mit Marc Brütsch, Chefökonom Swiss Life am 10.11.21 Photo Siggi Bucher
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Volkswirtschafter Marc Brütsch:«Wir müssen uns an höhere Benzinpreise gewöhnen»

Ein Meister-Ökonom über die Lage der Schweiz
«Wir müssen uns an höhere Benzinpreise gewöhnen»

Hohe Kosten, tiefe Zinsen und die Pandemie: Der Volkswirtschafter Marc Brütsch sagt, wohin die Konjunktur steuert und wie Notenbanken ticken.
Publiziert: 28.11.2021 um 00:21 Uhr
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Aktualisiert: 28.11.2021 um 13:32 Uhr
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Auch die Wirtschaft leide an Long Covid, sagt Volkswirtschaftler Marc Brütsch im Interview mit SonntagsBlick.
Foto: Siggi Bucher
Interview: Sven Zaugg

Herr Brütsch, leidet auch die Wirtschaft an Long Covid?
Marc Brütsch:
Einzelne Sektoren werden langfristig mehr zu beissen haben. Ich denke an Gastronomie oder Tourismus. In diesem Sinne: Ja, auch die Wirtschaft kennt Long Covid. Aus ökonomischer Sicht bereitet uns die Pandemie jedoch weniger grosse Sorgen. Wir wissen, wo der Feind sitzt. Die Finanzkrise – als wir jeden Stein umdrehen mussten, um die Probleme zu verstehen – war komplexer.

Den Konsumenten schlagen derzeit hohe Preise auf den Magen. Welche Gefahr geht von den steigenden Inflationsraten aus?
Für die Schweiz sehe ich keine grösseren Probleme. Hier steht die Inflationsrate aktuell bei 1,2 Prozent, also viel tiefer als in Deutschland. Langfristig erwarten wir eine durchschnittliche Inflationsrate von 0,6 Prozent. Das ist zwar ein Anstieg gegenüber dem Jahrzehnt vor der Pandemie, aber in absoluten Zahlen sind wir immer noch in einer akzeptablen Situation. Selbst die Nationalbank sieht die Preisstabilität gewährleistet.

In den USA schoss die Teuerung auf den höchsten Stand seit über 30 Jahren. Warum ist die Inflation hier nur ein laues Lüftchen?
Steigende Energiepreise und Mieten sowie ein wachsender Konsum haben die Inflation in den USA angetrieben. Dort wird der Benzinpreis viel weniger besteuert, Bewegungen am Rohwarenmarkt schlagen deshalb viel rascher auf den Preis an der Tankstelle durch. In der Schweiz haben Ausgaben für Benzin und Heizöl im Vergleich zu den Nachbarländern ein kleineres Gewicht im Warenkorb für den Konsumentenpreisindex.

Warum steigen die Energiepreise derzeit so rasant?
Zum einen wegen Nachholeffekten aus der letztjährigen Rezession. Gleichzeitig treibt die Dekarbonisierung die Preise an.

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Inwiefern?
Die Welt will klimaneutral werden, das kostet Geld. Energie aus Fracking und Kohle wird nicht mehr in gleichem Mass gefördert. Nun bekommt die Dekarbonisierung der Industrie ihr Preisschild: In der Schweiz verzeichnen wir eine Jahresteuerung von 1,2 Prozent, die Hälfte davon geht auf die Energiepreise zurück. Gerade beim Benzin werden wir uns wohl an höhere Preise gewöhnen müssen.

Das bringt uns zur Nationalbank: Ist eine Zinserhöhung absehbar?
Wir rechnen erst 2024 mit einer ersten Zinserhöhung. Von den Minuszinsen wird sich die SNB aber erst später verabschieden.

Damit bläht sie die Immo-Blase weiter auf. Würden Sie sich jetzt noch ein Haus kaufen?
Ich würde immer noch auf Immobilien setzen. Wir sehen keine Anzeichen für Spekulation oder Überangebot. Ich wäre aber wählerisch bei der Lage: Die Erfahrung zeigt, dass Liegenschaften an zentraler Lage sehr stabile Preise haben.

Aber die Nationalbank warnt immer lauter vor einem Crash …
Sie zielt damit vor allem auf die Belehnungspraxis der Banken, die sich in diesem Bereich ja selber regulieren. Offenbar will die SNB die Banken auf dem Kommunikationsweg dazu bringen, bei Hypothekarkrediten restriktiver zu werden.

Dabei ist ihre Zinspolitik der zentrale Treiber der Immo-Blase. Für die SNB zählt nur der Franken.
Mit einem einzelnen wirtschaftspolitischen Instrument kann man halt immer nur ein Ziel verfolgen. Aber für den Immobilienmarkt heisst das auch: Die Zinsen werden in nächster Zeit sicher nicht nach oben springen. Das reduziert die akute Gefahr eines Crashs markant.

Nicht nur im Immo-Markt hängt alles von den Zinsen ab. Die Rolle der Zentralbanken ist übermächtig geworden. Aber agieren diese Institute überhaupt noch unabhängig?
Das stelle ich zunehmend infrage. Die Vermengung von Geld- und Fiskalpolitik nimmt immer stärker zu. Corona hat das zementiert. Gemäss Lehrbuch hätten die Notenbanken zu Beginn der Krise die Zinsen gesenkt und der Staat hätte sich zu Marktkonditionen verschuldet, um der Krise fiskalpolitisch zu begegnen. Tatsächlich aber konnten die Notenbanken die Zinsen gar nicht mehr weiter senken.

Persönlich

Marc Brütsch amtet seit März 2000 als Chefökonom von Swiss Life Asset Managers. Er ist bereits seit 1993 für die Versicherungsgruppe tätig. Brütsch studierte Nationalökonomie und Publizistik an der Universität Zürich. Er und sein Team wurden in den letzten sechs Jahren viermal mit dem Forecast Accuracy Award ausgezeichnet, weil sie die beste BIP- und Inflationsprognose für die Schweiz lieferten.

Marc Brütsch amtet seit März 2000 als Chefökonom von Swiss Life Asset Managers. Er ist bereits seit 1993 für die Versicherungsgruppe tätig. Brütsch studierte Nationalökonomie und Publizistik an der Universität Zürich. Er und sein Team wurden in den letzten sechs Jahren viermal mit dem Forecast Accuracy Award ausgezeichnet, weil sie die beste BIP- und Inflationsprognose für die Schweiz lieferten.

Und was tun sie stattdessen?
Sie halten die Zinsen tief und kaufen im grossen Stil Staatsanleihen, damit die teils hoch verschuldeten Staaten ihre Schulden refinanzieren können. Dieses Regime nennt sich Finanzrepression. Es setzt den Markt teilweise ausser Kraft und drängt die Investoren in die Aktien- und Immobilienmärkte.

Und der Bund? Macht er zu viel oder zu wenig?
Bei den Covid-Finanzhilfen hat die Schweiz eine weltweite Vorbildrolle gespielt. Aber die Pandemie hat auch Schwachpunkte offengelegt, etwa im System des Föderalismus. Da entstand bisweilen ein politisches Vakuum, das den Kampf gegen die Pandemie gelähmt hat.

In diesen Wochen diskutiert die Schweiz verstärkt über das Covid-Zertifikat. Welche Wirkung hat diese Massnahme aus ökonomischer Sicht?
Das Zertifikat ermöglicht, dass die Wirtschaft offen bleibt. Und unsere Wirtschaft hat bewiesen, dass sie mit solchen Situationen umgehen kann und trotz Pandemie den Weg zu den Kunden findet. Es ist deshalb vor allem ein gesellschaftliches Problem. Doch die Alternative zum Zertifikat wäre eine sehr hohe Impfquote – und die erreichen wir offensichtlich nicht.

Zu Beginn der Pandemie gab es Stimmen aus dem Bereich der Ökonomie, die politische Massnahmen als wirtschaftsschädlich ablehnten. Wo ist der Konsens heute?
Nach meiner Wahrnehmung waren die meisten Ökonomen grosse Befürworter eines effizienten Contact Tracings. Massnahmen wie das Zertifikat werden auch heute von Ökonomen mehrheitlich anerkannt – gerade im Vergleich zu totalen Lockdowns.

Spielt der Begriff Lockdown in Ihren Überlegungen überhaupt noch eine Rolle?
Wir gehen in unseren Prognosen nicht davon aus, dass es noch einmal einen breitflächigen Lockdown geben wird.

Was wird uns im nächsten Jahr beschäftigen – abgesehen von Corona?
Die Zwischenwahlen in den USA werden weltweit Beachtung finden. Und der Handelsstreit zwischen China und den USA, der nicht gelöst ist.

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