Wirt Cla Valentin (68) muss die «Chasa Veglia» schliessen
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Immobilienjagd im Unterengadin:Wirt Cla Valentin (68) muss die «Chasa Veglia» schliessen

Die Pandemie hat reiche Unterländer ins Engadin gelockt – jetzt regt sich Widerstand
Einheimische bangen um ihre Dörfer

Die Pandemie hat die Unterländer in die Berge getrieben. Die mieten und kaufen jetzt das halbe Engadin leer. Die Einheimischen haben kaum noch Platz. Und fürchten sich vor dem Dorfsterben. Eine Reportage aus dem Unterengadin.
Publiziert: 12.03.2022 um 18:38 Uhr
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Aktualisiert: 25.03.2023 um 21:58 Uhr
Im Unterengadin geht die Angst vor dem grossen Dorfsterben um.
Foto: Thomas Meier
Rebecca Wyss

Gerade löst sich wieder so ein schwarzer Punkt. Segelt die weisse Schneewand hinab. Hinter ihm kommt schon der nächste. So geht das den ganzen Tag. Skifahrer auf der «Traumpiste», der ewig langen Abfahrt von Salaniva nach Sent. Keinem von denen, die da runterrasen, käme es wohl in den Sinn, dass weit unten im Tal ein Mann jeden Schwung mitverfolgt: Cla. Cla Valentin (68) steht an einem Morgen im Februar auf seiner Restaurantterrasse in Sent. Sein Blick schweift über die Hügelzüge der Bernina- und der Silvrettakette, die Hänge des Scuoler Skigebiets, das halbe Unterengadin. Wie fast jeden Tag, als wollte er prüfen, ob noch alles da ist. Auf die Frage, ob sich die Aussicht nicht abnutze, hebt er die grauen Brauen, sagt: «Das ist unser Zuhause.» Trotz schwingt mit. Über die Aussicht, die sein Herz so wärmt, hat sich nämlich ein dunkler Filter geschoben.

Cla Valentin.
Foto: Thomas Meier

Cla Valentin und seine Frau Maria (60) sind die Wirtsleute des Chasa Veglia, auf Romanisch: altes Haus. Seit 300 Jahren schützen die dicken Mauern dessen Bewohner, lange waren dies Bauern. Wo heute das halbe Dorf bei Capuns mit Bündnerfleisch und Quark-Pizzockels zusammensitzt, war früher der Heustall. Hier alt werden – nichts anderes wollte Maria, als sie vor elf Jahren das Restaurant übernahm. Erst alleine, seit ihr Mann pensioniert ist, sind sie zu zweit. Sie mussten bei null anfangen. Steckten alles Geld, alle Kraft rein, die sie hatten. «Wir hatten es schwer», sagt sie kurz angebunden, in der Küche wartet ein Berg Blumenkohl zum Rüsten auf sie. Jahrelang waren die Zahlen nur rot, rot, rot. «Jetzt geht es uns endlich gut.»

Maria Valentin in der Küche.
Foto: Thomas Meier

Ausverkauf einer Dorfbeiz

Und jetzt, wo es läuft, weil der letzte Pandemiesommer so viele Unterländer aus allen Windrichtungen zu ihnen wehte, jetzt, soll bald alles nicht mehr sein. Fertig Chasa Veglia. Im Mai muss das Pächterpaar raus. Weil die Eigentümerin starb. Und die Erbengemeinschaft im Juni an den Meistbietenden verkaufte: einen deutschen Immobilienunternehmer. Dieser Mann will nun ein Boutiquehotel daraus machen.

Die Dorfbeiz Chasa Veglia in Sent.
Foto: Thomas Meier

Die Senter verlieren gerade ihre Dorfbeiz. Und das ist symptomatisch für eine Entwicklung, die sich wie ein Mottfeuer in der Region ausbreitet: Die Unterländer kaufen das Engadin zusammen. Und verdrängen die Einheimischen.

Seit Pandemieausbruch entdeckt der Mensch die alpinen Räume neu. Allen voran das Engadin. Plötzlich arbeiten Deutsche, Zürcher, Basler Bürolisten im Homeoffice, haben genug von der miefigen, engen Stadt und kommen auf den Geschmack: Wollen wie Cla Valentin ab und zu frische Bergluft schnuppern, bevor sie morgens den Laptop aufklappen. Das jagt die Immobilienpreise in die Höhe.

Den Boden für diese Entwicklung hat das Zweitwohnungsgesetz gelegt. Seit ein paar Jahren schränkt es den Bau von Zweitwohnungen ein. Und sollte die Berggebiete eigentlich vor dem Aussterben retten – doch schubst sie nun Richtung Abgrund. Weil keine neuen Ferienwohnungen mehr gebaut werden dürfen, ist der Druck auf die alten Häuser, vor allem Engadinerhäuser, gestiegen. Sie sind nicht durch das Gesetz geschützt. Auf sie stürzen sich nun alle.

Ein typisches Engadinerhaus: mit Sgraffiti – in den Putz gekratzte Ornamente.
Foto: Thomas Meier

Erst im Oberengadin, dann im Unterengadin: Wohnungsnot

Erst erfasste die Kauflust der Auswärtigen nur das Oberengadin, vor allem Schampus-Hotspots wie St. Moritz. Nun muss auch das Unterengadin dran glauben. Das zeigt das Immo-Monitoring von Wüest Partner: Im Ober- wie im Unterengadin stehen nur noch halb so viele Wohnungen leer wie vor gut zwei Jahren. Gleichzeitig zeigt das Wohnungsinventar des Bundes: In allen Gemeinden des Ober- und Unterengadins ist der Anteil an Zweitwohnungen in den letzten vier Jahren um einige Prozentpunkte gestiegen.

Die Folgen sind verheerend: Es herrscht Wohnungsnot. Und das trifft vor allem die alteingesessenen Einheimischen. Die «Engadiner Post» berichtet seit Monaten darüber. Die Redaktion wird mit Schreiben überhäuft: Von Familien, die Zuwachs erwarten und keine grössere Wohnung finden. Oder keine bezahlbare. Ähnlich ergeht es Jungen, die bei den Eltern ausziehen wollen. Und wieder andere überlegen sich nun, aus dem Engadin wegzuziehen. Das SonntagsBlick Magazin sprach mit zwei Betroffenen, die beide anonym bleiben wollen – aus Angst davor, auf der Wohnungssuche plötzlich vor verschlossenen Türen zu stehen.

Die Einheimischen fühlen sich bedrängt. Und so geht eine neue alte Angst im Unterengadin um: jene vor dem Dorfsterben. Das Puppenstuben-Phänomen. Lauter hübsche Fassaden, hinter denen kein Lichtlein brennt. Stichwort: Guarda, das Schellen-Ursli-Dorf. Wo ein Spruch an einer Hauswand den Vorbeiziehenden schon auf Romanisch fragt: «Da tuot chels chi passan, chi est tü?» – Von allen, die vorbeikommen, wer bist du?. Weil man längst die Übersicht verloren hat, zur Hälfte schon stehen dort nur noch Ferienhäuser und -wohnungen. Ähnlich in Ardez. Oder bald in Sent – der neue It-Place für Auswärtige.

Die Senter wehren sich

Doch in Sent wehrt man sich. Im Spätsommer warben die Dorfbewohner untereinander für eine Petition, um das Chasa Veglia zu erhalten. 1200 Unterschriften liegen nun bei der Gemeinde Scuol. Doch das bringt wenig, verkauft ist verkauft. Der neue Besitzer Wolfgang Gertz (69) sagt: «Ich war der Einzige, der bereit war, die Summe zu zahlen, die die Eigentümer wollten.» So spiele der Markt. 700'000 Franken – das überstieg das Budget der Einheimischen.

Das Haus ist 300 Jahre alt. Wo früher der Heustall war, sitzen heute die Gäste.
Foto: Thomas Meier

Mittlerweile liegt der Fall bei Gericht. Ende März ist der Termin. Die Hoffnung des Beizerpaars: Ein paar weitere Jahre wirten. Ob sie damit durchkommen werden? Cla Valentin sagt, sie müssten es versuchen. «Wir sitzen zwischen Stühlen und Bänken und haben keine Sitzfläche mehr.»

Anders die Herren mit schütterem Haar am Stammtisch, noch sitzen die sechs bequem. Doch das Thema verhagelt ihnen kurz die gute Laune. Was so klingt:

«Scheisse ist es.»
«Katastrophe.»
«Wir sind vier mal pro Woche hier. Wo sollen wir sonst hin?»
«In die Pizzeria gehe ich nicht.»
«Ins ‹Fontana› auch nicht.»
«Wenns das Chasa Veglia nicht mehr gibt, fehlt quasi die Kommunikation im Dorf.»
«Wenn etwas ist, frage ich hier. Und meine Frau fragt mich dann zu Hause.»
«Sie sind hier wie Archivare für mich.»
«Verstaubte Archivare!»

Die Stammgäste.
Foto: Thomas Meier

Keine Bleibe für Angestellte

Talabwärts ist das Wetter nicht besser. Ein paar Flocken trüben in Lavin die Sicht. Hans Schmid (57) schaut nachdenklich in die Zukunft. Seit 14 Jahren führt er hier das Hotel Piz Linard. Dafür zog er von St. Gallen ins Unterengadin. Machte aus dem rosafarbenen Palazzo eine angesehene Adresse – für gutes Essen, bio, Demeter, regional. Für Erholung. Und Kunst, Schmid malt. Gleichzeitig ist er der grösste Arbeitgeber im Dorf. Und normalerweise stimmt für den Betrieb, was über der Kaffeemaschine in geschwungenen Lettern auf Romanisch steht: «fich bun», «sehr gut». Doch drückt den Unternehmer mehr und mehr eine Sorge: Der Markt für frische Arbeitskräfte ist ausgetrocknet. Er sagt: «Wir stehen mit dem Rücken zur Wand.»

Hotelier Hans Schmid in Lavin.
Foto: Thomas Meier

Im Piz Linard arbeiten Menschen aus Portugal, Bulgarien, Tschechien, Tibet, von überall her ziehen sie ins Tal, und brauchen eine Unterkunft. Gerade steht Schmid mit einem Italiener in Kontakt. Eine Servicekraft, die er dringend braucht, weil er in der Gegend keine findet. Der Mann hat Frau und Kind. Schmid sagt: «Wir wissen nicht, wo wir die Familie unterbringen sollen.» Nicht zum ersten Mal. Andere verloren deshalb schon ihr Interesse an einer Stelle im Hotel.

Das Hotel Piz Linard.
Foto: Thomas Meier

Wie Schmid geht es vielen Unternehmern im Engadin. Gerade in der Gastronomie, der Tourismusbranche. Bergbahnbetreiber spielen schon mit dem Gedanken, auf ihren Parkplätzen Wohncontainer für das Personal aufzustellen.

Die Misere trifft jetzt alle. Und viele wehklagen. Doch was auch wahr ist: Die Engadiner selber haben das Problem mit erschaffen. Lange hatten sie für Zweitwohnungsbesitzer ein grosses Herz. Wenn ein Einheimischer ein Haus im Dorfkern erbte, verkaufte er es gerne und sofort an einen Auswärtigen, und baute sich selber mit dem Geld ein Neues am Dorfrand. Mit dem neuen Raumplanungsgesetz geht das nicht mehr. Was wiederum dazu führt, dass sich die Wohnungsknappheit für Einheimische weiter verschärft.

Und in Bern lobbyierten das Wallis und Graubünden für Schlupflöcher im Zweitwohnungsgesetz, setzten durch, dass die vielen alten Ställe in den Bergdörfern, wie sie in Sent zuhauf stehen, zu Ferienwohnungen umgebaut werden können. Die grosse Angst der Bergkantone: Ihrem Gewerbe könnte die Arbeit ausgehen. Am Tropf des Zweitwohnungsbaus hängt ein ganzer Industriezweig mit Bauunternehmen, Malergeschäften, Sanitären und vor allem: Architekten. Ihr Geschäftsmodell: alte Engadinerhäuser mit Stall zum Schätzpreis aufkaufen, zu modernen Villen aus Glas und edlem Holz umbauen und für viel Geld – manchmal mehrere Millionen – verkaufen.

Der Dorfplatz von Sent.
Foto: Thomas Meier

Wie in Sent. Moritz Leuenberger erstand dort letztes Jahr ein solches, Duri Vital, der bekannte lokale Architekt und Bruder des Künstlers Not Vital, hatte es für ihn aufpoliert. Im Dorf rätselt man über den Kaufpreis und schüttelt den Kopf über die neue Fassade: Dort fehlen jetzt die Sgraffiti – die traditionellen in den Putz gekratzten Ornamente. Weggefegt.

Die Einheimischen organisieren sich

Der gleiche Duri Vital eilt nun gerade zu Fuss über den Dorfplatz in Sent, eine schwarze Ledermappe unter dem Arm. In Sichtweite sitzt ein Mann, der mit diesem Treiben ein Problem hat: Riet Fanzun (34). Er ist selber Architekt, in der Nähe, in Tarasp, aufgewachsen. Und sagt: «Die Gemeinden müssen jetzt die Augen öffnen.» Er zeigt auf die Häuser vor ihm, erklärt: Noch vor ein paar Jahren zahlte man für ein ganz normales Engadinerhaus eine halbe Million Franken, jetzt sind es anderthalb.

Riet Fanzun vom Verein Anna Florin.
Foto: Thomas Meier

Riet Fanzun gehört zu einer Gruppe von Einheimischen, die sich gerade zusammengeschlossen haben. Zum Verein Anna Florin. Seit Oktober füllt sich dessen Mitgliederliste wie von selber. Alle haben das gleiche Ziel: «Wir wollen die Dörfer wiederbeleben.» In Ardez seien Metzgerei, Molkerei und Usteria verschwunden. In Guarda habe man die Schule aufgegeben, der Dorfladen sei eine Frage der Zeit, genauso wie der Dorfladen und die Schule in Tarasp. «Es fehlt an Menschen, die hier dauerhaft sesshaft sind.» Am Nachwuchs. Der hat das Tal Richtung Unterland verlassen, fürs Studium, für einen Job. Kommt nach und nach je nach Lebensabschnitt wieder zurück. Gerade während der letzten beiden Jahre bekamen einige laut Fanzun Heimweh. «Sie wollen zurück, können aber nicht.»

Immobilienboom, Wohnungsnot, blutleere Dörfer – bei den Unterengadiner Gemeinden kommt all das nur langsam an. Bei den grossen Scuol, Zernez und Valsot heisst es: Man prüfe derzeit Massnahmen. Riet Fanzun sitzt in der Baukommission von Scuol und weiss: «Es braucht noch Überzeugungsarbeit.»

In welche Richtung, ist für ihn und seine Mitstreiter ganz klar: Die Engadiner sollen ihren Wohnraum erst an Einheimische und danach an Zweitwohnungsinteressierte vermieten oder verkaufen. Und die Gemeinden sollen Kontingente errichten: Auf jedem Grundstück soll eine bestimmte Fläche an Wohnraum für Einheimische reserviert sein. Ideen, die im Oberengadin längst angekommen sind. Sils hat gerade einen Baustopp erlassen: Während zwei Jahren dürfen keine weiteren Erstwohnungen mehr zu Zweitwohnungen umgenutzt werden. Und das ist nur der erste Schritt, heisst es aus der Gemeinde – sofern das Volk mitziehe.

Im Unterengadin hilft man sich derweil selber. Versucht es zumindest. In Lavin will Hans Schmid aus einem anderen, eingeschlafenen, Hotel ein Personalhaus machen – für seinen und andere Betriebe im Dorf. Seine Vision: Die Gemeinde Zernez, zu der Lavin gehört, möge die Immobilie kaufen und im Baurecht an eine Genossenschaft abgeben. Und das soll Schule machen. Schmid sagt: «Es wäre schön, wenn das Bergtal den genossenschaftlichen Wohnungsbau entdecken würde.» Damit könne man junge Familien und talentierte Arbeitskräfte motivieren, sich hier niederzulassen. Auf Anfrage gibt sich die Gemeinde Zernez zurückhaltend, will noch «keine Versprechungen machen».

Kein Trost für das Wirtepaar

In Sent sind derweil die Tage des Chasa Veglia gezählt. Immerhin etwas hat die Petition der Einheimischen bewirkt: Der Besitzer plant neben Zimmern auch ein kleines Restaurant – mit Stammtisch. Klasse statt Masse – will er bieten. Ob die Stammgäste trotzdem noch jeden Tag auf ein Calanda kommen, wird sich zeigen.

Cla Valentin sagt: «Wir kämpfen um unsere Existenz.»
Foto: Thomas Meier

Für das Wirtepaar bleibt die Aussicht, wie sie ist: getrübt. Cla Valentin stapft an diesem Vormittag noch einmal auf die Terrasse, zeigt auf die «Traumpiste», sagt: «Jetzt schaue ich mit einem weinenden Auge darauf.» Doch um die Aussicht geht es längst nicht mehr. «Wir kämpfen um unsere Existenz.» Dann kehrt er den Bergen den Rücken. Keine Zeit zum Hadern. Drinnen warten die ersten Büezer im Übergwändli auf ihren Zmittag.

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