Rekordumsätze, Schwerverletzte, Parkplatzchaos
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Die Folgen des Velo-Booms
Rekordumsätze, Schwerverletzte, Parkplatzchaos

Die Schweiz tritt in die Pedale. Das beflügelt auch die Tourismusregionen. Doch in den Städten herrscht Platzmangel. Und die Unfälle häufen sich.
Publiziert: 16.08.2020 um 00:17 Uhr
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Aktualisiert: 13.10.2020 um 08:55 Uhr
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Die Schweiz tritt in die Pedalen.
Foto: Nathalie Taiana
Danny Schlumpf

Der Onlinehändler Digitec Galaxus hat für SonntagsBlick den Fahrradabsatz im ersten Halbjahr 2020 mit dem von 2019 verglichen. Ergebnis: Wachstum in allen Kate­gorien, und zwar in völlig neuen Dimensionen.

Bei Mountainbikes stiegen die Umsätze um 125, bei BMX-Velos um 410 und bei den Trekkingrädern um 472 Prozent. In der Kategorie E-Bikes schiessen die Zahlen förmlich durchs Dach: Die Zunahme liegt bei 1060 Prozent.

Die Schweiz tritt in die Pedale – mit einer Drehzahl, die Velogeschäfte an den Anschlag bringt. «Wir wurden überrannt», sagt Urs Umiker (37), Geschäftsführer des Velocenters Imholz in Chur GR. «Die diesjährigen Modelle sind ausverkauft.»

Notfall-Import

In einer Notfallaktion importieren Schweizer Händler deshalb bereits die ersten Modelle von 2021. Umiker verkauft Fahrräder aller Kategorien. «Aber Boom-Treiber sind ganz klar die E-Bikes.»

2018 wurden in der Schweiz erstmals mehr als 100'000 elektrische Velos verkauft. «In den letzten zwölf Monaten waren es rund 170 '000», sagt Martin Platter (55), Geschäftsführer des Branchenverbandes Velosuisse. «Dieser Boom ist einzigartig.»

Doch was sind die Gründe? «E-Bikes passen perfekt zum Zeitgeist», sagt Bike-Experte Dave Tschumi (40). «Die Menschen wollen möglichst viele Dinge kombinieren und o ptimieren. Das Fahrrad bringt ihnen Naturerlebnis, Bewegung und Action – und das E-Bike bringt sie noch schneller den Berg hinauf. Corona hat diesen Trend verstärkt.»

Tschumis Firma Velosolutions plant und baut weltweit Bike-Infrastrukturen. Vor einer Woche schloss das Team den Bau des Nagens Trails in Graubünden ab: eine sechs Kilo­meter lange Mountainbike-Strecke, die von der Bergstation Nagens oberhalb von Laax nach Flims hinabführt. Das Timing war perfekt. «Schon in den ersten Tagen nutzten mehrere Hundert Biker den neuen Trail», sagt Tschumi. Zurzeit baut Velosolutions Mountainbike-Rundkurse in Marti­gny VS, Baden AG und Faido TI. Parallel laufen Projekte in Europa und den USA. Dave Tschumi: «Die Nachfrage ist gross.»

«Der Ansturm ist riesig.»

Am grössten ist sie in Graubünden. Seit 2018 nennt sich der Kanton «Home of Trails» und investiert kräftig in die Infrastruktur. Im Engadin, in der Surselva, in Arosa und auf der Lenzerheide wurden Parks und Trails gebaut, begleitet von aufwendigem Marketing. Im Corona- Sommer 2020 zahlt sich die Strategie aus. «Der Tourismus profitiert enorm von den Bikern», sagt Martina Tresch (28), Tourismus-Verantwortliche von Flims, Laax und Falera. «Der Ansturm ist riesig.»

Doch der Boom hat eine Kehrseite: In den letzten vier Monaten behandelte das Kantonsspital Graubünden über 200 verunfallte Biker – 50 Prozent mehr als in der gleichen Periode 2019. Im Juli waren es gar 60 Prozent. «Einen solchen Anstieg haben wir noch nie erlebt», sagt Christoph Sommer (60), Chefarzt Unfallchirurgie am Kantonsspital in Chur.

Besonders beunruhigend: Es gibt immer mehr Schwerverletzte. «Stürze beim Biken sind gefährlicher als beim Skifahren», sagt Sommer. «Unter den Patienten sind viele unerfahrene Biker, die sich überschätzen.»

Johannes Nidecker (32) ist Präsident der IG Graubünden Bike-Guide. Er sagt: «Die Bikes werden immer besser – von den Pneus bis zur Federung. Das animiert zum Fahren auf einem Level, dem man nicht gewachsen ist.»

Spontankäufe mit Folgen

In diesem Jahr sei zudem der Prozess vom Kauf­entscheid bis zur ersten Abfahrt bei vielen besonders schnell verlaufen. «Gerade dann aber sollte man sich ein paar Stunden Zeit für einen Kurs nehmen. Wer zum ersten Mal Ski fährt, geht ja auch zum Skilehrer.»

Hinzu kommt: Viele Trails sind technisch anspruchsvoll. Das Angebot für Anfänger hinkt dem Trend hinterher. Johannes Nidecker arbeitete deshalb an einem leichten Parcours im Trail Center Thusis GR mit. Anfang Sommer wurde die drei Kilometer lange Waldstrecke eröffnet. «Der Andrang ist riesig, das Bedürfnis ist da», sagt Nidecker. «Dieses Konzept hat sicher auch in den Städten im Unterland Poten­zial.»

Die Velo-Diebe freuts

Denn auch dort wird geradelt, was das Zeug hält. «Seit dem Lockdown-Ende stiegen die Velo­frequenzen stark an», meldet die Stadt Zürich. Mit der Folge, das auch das Parkplatzchaos an Bahnhöfen und anderen neuralgischen Punkten weiter zunimmt – ebenso die Diebstähle. In den letzten vier Jahren nahm die Anzahl geklauter Fahrräder in Zürich von 2762 auf 3131 zu. Schweizweit werden mittlerweile 40'000 Diebstähle pro Jahr gemeldet – und mit den teuren E-Bikes steigt auch die Schadenssumme.

«Der Fahrradboom führt zu einem Platz- und Sicherheitsproblem», sagt Frido Stutz (66), Verwaltungsratspräsident des Zürcher Jungunternehmens V-Locker. Stutz will das Problem mit einem neuartigen Velo-Turm lösen. Die Installation funktioniert wie ein Pater-Noster-Lift: Fahrräder werden samt Gepäck in Boxen gestellt und hochgefahren. Stutz: «Auf der Fläche eines Autopark­platzes können so bis zu 60 Velos übereinander­gestapelt werden.» Die Radfahrer finden den Turm via App und können bereits vor ihrer Ankunft ihre Box reservieren.

Seit dieser Woche steht der erste V-Locker-Turm beim SBB-Bahnhof Münchenbuchsee BE. Auch die Deutsche Bahn ist interessiert. Sie stattet den Bahnhof Halle (D) mit zukunftsweisender Infrastruktur aus – als Modell für die nächste Generation deutscher Bahn­höfe.
Ab Anfang Oktober steht dort auch ein Velo-Turm aus der Schweiz.

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