Es ist pure Euphorie, die an der Deutschen Börse derzeit herrscht: Der Dax klettert und klettert. Seit der Aktienindex der grössten deutschen Unternehmen am Mittwochmorgen die Schallmauer von 18'000 Punkten durchbrach, steigt der Zähler weiter.
Auf den ersten Blick verwundert das, denn der Wirtschaft in Deutschland geht es aktuell nicht sehr gut: Die Konsumentenstimmung ist mit –29,6 Punkten im Februar so tief wie schon lange nicht mehr, und auch die Arbeitslosenquote stieg in unserem Nachbarland von Januar auf Februar um 6,1 Prozent.
Warum geht es Deutschland wirtschaftlich nicht gut?
«Die deutsche Wirtschaft ist in eine Rezession geraten», sagt Sergio Rossi (52), Professor für Makroökonomie und Geldpolitik an der Universität Freiburg. Die deutsche Wirtschaft schrumpft. Im vergangenen Jahr sank das deutsche Bruttoinlandprodukt (BIP) um 0,3 Prozent. In der Schweiz stieg das BIP im gleichen Zeitraum um 1,3 Prozent.
Grund dafür ist eine Verkettung von Ereignissen seit Corona: Nach dem Virus kämpfte Deutschland mit steigenden Preisen wegen des Krieges in der Ukraine. Viele Güter, die Deutschland importiert, wurden schlagartig teurer. Zudem erhöhte die Europäische Zentralbank schrittweise den Leitzins, der heute bei 4,5 Prozent liegt. Das hat Auswirkungen auf die Lebensmittelpreise und den Immobilienmarkt. Nicht zuletzt steigt der Druck auf die Konsumenten, vieles wird teurer, und viele deutsche Unternehmen mussten in den vergangenen Monaten den Gürtel enger schnallen. Es kam zu Massenentlassungen.
Gleichzeitig ist der DAX auf einem Höhenflug, wie geht das?
«Die Finanzmärkte reagieren in der Regel gegensätzlich zu der sogenannten Realwirtschaft», sagt Rossi. Geht es einem Land wirtschaftlich nicht gut, kann es zu einem Auftrieb an der Börse kommen. Denn dann wittern einige Akteure an der Börse die grossen Gewinne: mehr Dividende und mehr Ausschüttungen. Sie kaufen zu.
Weiter befeuert die Hoffnung auf sinkende Zinsen derzeit alle Märkte. Das Geld würde wieder billiger werden, die Kaufkraft wieder steigen und damit auch die Gewinnausschüttungen. Die US-Indizes wie der Dow Jones, der Tech-Index Nasdaq oder der S&P 500 kratzen zeitweise an Rekordständen.
Aber wieso performt der DAX besser als der SMI?
Seit Jahresanfang hat der DAX die Nase vorn. Der Aktienindex der 40 grössten deutschen Unternehmen legte in den letzten drei Monaten rund 8 Prozent zu. Der Aktienindex der 20 grössten Schweizer Unternehmen, der SMI, verzeichnet in der gleichen Zeitspanne ein Plus von rund 4,5 Prozent.
An der Schweizer Börse sind Schwergewichte wie Nestlé, Roche und Novartis kotiert. Diese Unternehmen sind weniger zinsabhängig als andere. Der DAX hingegen ist ein Performance-Index, das heisst, er berücksichtigt die Dividenden. Das kann sich im Laufe der Zeit anhäufen.
Es muss aber nicht sein, dass es jetzt so weiter geht, sagt Rossi. Wenn an der Deutschen Börse wegen der schlechten Wirtschaftslage massiv verkauft werde, könne sich das Blatt wieder wenden. Denn dann würden die Unternehmen anfangen, Verlust zu machen, und Aktionäre abspringen.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der kriselnden Wirtschaft Deutschlands und dem DAX-Höhenflug?
Ja. «Verschiedene Finanzinstitute kaufen Aktien und Anteile von Unternehmen, wenn diese einen Stellenabbau ankündigen, weil sie davon ausgehen, dass dies den Gesamtgewinn steigert», so Rossi. Aber auch Unternehmen, die aus finanziellen Gründen ihre eigenen Aktien zurückkaufen, erhöhen kurzfristig ihr Vermögen – und damit steigen auch die Börsenkurse. «Die Aktienkurse sind also stark an die Leistung der jeweiligen Unternehmen gekoppelt.»