«C'est une situation favorable.» Es sei eine günstige Ausgangslage, sagt Gesundheitsminister Alain Berset (49) an der Medienkonferenz vom Freitag zur Corona-Situation in der Schweiz. Die Fallzahlen sinken seit Wochen, ebenso die Spitaleinweisungen und die Todesfälle. Vielerorts ebbt sie ab, gilt die vierte Welle bereits als gebrochen.
Bersets Aussage kommt einem Déjà-vu gleich. «Es sieht gerade wirklich, wirklich gut aus», erklärte der renommierte Epidemiologe Marcel Salathé (46) just vor einem Jahr. Seine Prognose erwies sich innert weniger Wochen als kreuzfalsch. Die Corona-Fallzahlen explodierten im Oktober 2020 mit der Wiederaufnahme von Grossveranstaltungen und dem Wetterwechsel regelrecht. Die Schweiz rasselte ungebremst in die zweite Pandemie-Welle.
Droht uns heute das gleiche Schicksal wie vor einem Jahr – zu viel Optimismus, gefolgt von einem steilen Anstieg der Fallzahlen?
Die Zahlen beunruhigen
Ein detaillierter Blick auf die Statistik zeigt: Trotz Abwärtstrend liegt die Zahl der Neuinfektionen derzeit fast dreimal höher als vor einem Jahr. 73 Neuinfektionen pro 100'000 Einwohner werden pro Woche verzeichnet. Vor einem Jahr waren es 27. Damals schoss die Kurve danach um den Faktor 20 in die Höhe, auf 640 Neuinfektionen pro 100'000 Einwohner über 7 Tage.
Sollten die kühleren Temperaturen dieses Jahr zu einem ähnlich rapiden Anstieg führen, läge der Wert schon bald bei 1500 Neuinfektionen pro 100'000 Einwohner und Woche. Ein Mehrfaches der letztjährigen Neuansteckungen. Die Spitäler wären heillos überlastet.
Denn: Auch wenn die Fallzahlen seit Wochen rückläufig sind, ist die Auslastung auf den Intensivstationen weiterhin hoch. Es bleibt wenig Spielraum.
Die genomische Epidemiologin Emma Hodcroft (35) warnt im Blick-Interview denn auch: «Es wäre gefährlich, zu schliessen, dass wir die Pandemie besiegt haben und alle Vorsicht fahren lassen können.»
Hodcroft widerspricht damit auch den positiven Signalen aus anderen Ländern: Dänemark, Schweden, Norwegen, Irland, Grossbritannien, die Niederlande. Sie alle haben die Pandemie offiziell für beendet erklärt oder zumindest die verbleibenden Massnahmen über Bord geworfen.
«In der Schweiz steht mehr auf dem Spiel»
Nur bedeutet das noch lange nicht, dass die Schweiz es ihnen gleich tun kann. Was die anderen Länder gemeinsam haben: Impfquoten von 80 Prozent und mehr. In der Schweiz? 58 Prozent. «Das ist einfach nicht vergleichbar», betont Hodcroft. «In der Schweiz ist das Risiko einer weiteren starken Welle viel höher als in den anderen europäischen Ländern. Hierzulande steht einfach mehr auf dem Spiel.»
Drei Millionen Menschen in der Schweiz haben bisher überhaupt keinen Impfschutz. Daran erinnerte auch Bundesrat Berset an seiner Medieninformation am Freitag. Und fügte an: «Die Schweiz hat eine der tiefsten Impfraten Europas.» Immerhin: Bei den älteren Semestern ist die Impfquote höher.
Emma Hodcroft warnt aber, dass selbst das nicht reicht: «Allein in der Risikogruppe der über 65-Jährigen gibt es weiterhin 150'000 Menschen, die nicht geimpft sind. Wenn sie sich anstecken, müssen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ins Spital.»
Delta macht Impfvorsprung zunichte
Erschwerend kommt hinzu, dass diesen Herbst die Delta-Variante kursiert. Sie ist – je nach Schätzung – bis zu 60 Prozent ansteckender als die ursprüngliche Virusvariante vor einem Jahr.
Will heissen: Delta frisst einen Teil des Vorsprungs, den die Impfung uns gewährt, gleich wieder auf.
Emma Hodcroft plädiert für eine Impfquote von mindestens 80 Prozent in der Schweiz. Nur so könnte eine weitere starke Welle mit Sicherheit verhindert werden.
Der Bundesrat plant zu diesem Zweck eine regelrechte Impfoffensive. 150 Millionen Franken soll der «Schlussspurt» in der Impfkampagne kosten. 170 mobile Impfstellen soll es geben. Ausserdem 50-Franken-Gutscheine für all jene, die jemand anderen von der Impfung überzeugen. Dieser Vorschlag ist nun in der Konsultation bei den Kantonen.
Klar ist aber: Von heute auf morgen wird die Impfquote nicht von 58 auf 80 Prozent ansteigen. Nur schon, weil zwischen der ersten und der zweiten Dosis vier Wochen liegen.
Sinkende Temperaturen, steigende Infektionen
Der Bundesrat sowie Emma Hodcroft und andere Wissenschaftler balancieren auf einem schmalen Balken: zwischen Zuversicht und Zurückhaltung. «Dank Impfen und Testen reduzieren wir das Risiko einer weiteren starken Welle», stellt Hodcroft klar. Schiebt aber gleich nach: «Wir müssen achtsam bleiben. Bisher war es ein milder Herbst, wir haben uns viel draussen aufgehalten. Sobald die Temperaturen sinken, könnten wir auch einen Anstieg der Fallzahlen sehen.»
Bereits am Montag ist es vorbei mit dem goldenen Herbst. Die Temperaturen fallen um 10 Grad. Treffen verschieben sich von der Sonnenterrasse ins geheizte Café. Es wird sich also bald zeigen, ob die Zeichen tatsächlich auf Entspannung stehen – oder ob die Kurve wieder steigt.